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„Ich", lispelte der erste, „war vor kurzer Zeit in der Wolke, die
von ferne vorbeizog. Ich war mit dabei, als der Blitz den Eichbaum
droben aus dem Bergrücken zerschmetterte, daß die Äste umherstoben und
half das Häuschen mit löschen, das daneben stand und eben anfangen
wollte zu brennen." —
„Wir", sprachen zwei, die zugleich hinabrollten, „waren im vorigen
Winter Schneeflocken; wir hielten lustigen Tanz auf dem Bergplan, bis
uns die Frühlingssonne schmolz." —
„Hagelkörner waren wir", plätscherten andere.
„Wir Tautropfen!" wieder andere.
„Wir trugen Schisse im Meere, — wir löschten einem Verschmach¬
tenden den Durst unb retteten ihm das Leben, — wir trieben Mühlen¬
räder, — wir Dampfmaschinen, — wir waren süßer Saft in Kirschen,
— wir edler Wein, — wir Arzneitropfen, — wir Gift, — wir Milch!"
riefen die hellen Perlen, als sie niederträufelten. Ein klares Tröpfchen
hing mir eben an der Spitze des Fingers. „Ich war einmal eine
Thräne!" lispelte es, und ein zweites antwortete ihm: „Ich war einst ein
Tropfen Schweiß!" Ein drittes behauptete keck: „Ich war schou einmal
in deinem Herzen als warmer Tropfen Blut; ich zog davon zur weißen
Wolke, wie der Hauch im Winter als leichter Dampf sichtbar empor¬
stieg." — Da wurde es mir doch zu viel, — und ich schüttelte den
Rest mit einem Male hinab ins Bächlein, ich hätte können wochenlang
sitzen, ich glaube, die Geschichten wären noch nicht zu Ende gewesen.
„Sagt mir lieber", begann ich wieder zu fragen, „was habt ihr
im Berge gesehen, was giebt's Neues da drinnen?" Ich wollte sie aber
eigentlich ein wenig höhnen, da sie meinten alles Mögliche gesehen zu
haben und alles zu wissen; dann gedachte ich: was kann es in solch
einem Berge Neues geben, die Steine sind ja tot und liegen seit Jahr¬
tausenden regungslos. Wie sie im Anfange waren, so sind sie noch und
werden auch so bleiben, wenn sich nicht etwa ein Mensch ihrer annimmt
und ein Haus daraus baut.
Gauz gegen mein Erwarten vernahm ich aber von der Quelle gar
wunderbare Sachen.
„Jeder Tropfen", so hieß es, „der in den Berg dringt, nachdem
er früher Regen oder Schnee, Hagel oder Tau gewesen, ist ein kleiner,
fleißiger Bergmann, der innen im Berge seine senkrechten Schachte und
wagerechten Stollen anlegt bei seiner Grubenarbeit. Wenn du früher
einmal in den Märchen von Berggeistern und Kobolden gelesen hast, von
kleinen Männlein, die tief in der Erde fleißig sind und die edlen Me-