Full text: Zunächst für die unteren und mittleren Klassen der Gymnasien, mit Rücksicht auf schriftliche Arbeiten der Schüler (Theil 1, [Schülerband])

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den ist. Bedenke, mein Sohn, wie es dir sein würde, wenn du am 
Grabe der Eltern dir sagen müßtest: „Ich habe ihrem Herzen wehe 
gethan während ihres Lebens." Betrübe keinen Menschen! Denn du 
weißt nicht, ob du ihn am andern Tage noch lebend findest, um 
ihnr zu vergelten nach dem Wunsche deines Herzens. Darum spricht 
der Weise: „Lasse die Sonne nicht untergehen über 
deinem Zorne!" 
119-120. Das 
Am Grabe sitzt ein Mädchen, 
Das blüht so engelmild! 
In seinem Schooß' ein Körbchen, 
Mit Blumen angefüllt! 
Sie windet sie zum Kranze, 
So wie die Flur sie gab: 
Mädchen am Grabe. 
1. 
Es quellen große Thränen 
Zum Körbchen oft hinab. 
Wem windest du das Kränzchen, 
Mit schwarzem Trauerband? 
„Ich wind' es meinem Bruder, 
Ich hab' ihn nicht gekannt." 
Briefform. 
Erst gegen Ende der Woche wollte ich Dir antworten, und eher 
wird auch schwerlich dieser Brief vollendet werden. Aber die rührende 
Scene, die ich heute Morgen ans dem Kirchhofe erlebt habe, muß 
ich gleich für Dich niederlegen. 
Bald nach dem Aufgange der Sonne, deren erste Strahlen, wie 
Du weißt, auf mein Schlafzimmer kommen, als wolltett sie mir den 
Morgen ansagen, ging ich hinaus, um nach der thaureichen Nacht 
die Frische der Bäume und Saaten zu genießen. Ich wählte dazu 
den Weg, der zwischen Gärten hin und an dem Kirchhofe vorbei zu 
einem freien Hügel führt, von dem man die schönste Aussicht in die 
Nähe und in die Ferne hat. Das Laub und die Blüten hatten eine 
solche Fülle von innerem Leben und stiller Kraft, daß ich von dem 
Anblicke derselben nicht sowohl aufgeregt, als mit einer gewissen 
heitern Wehmuth erfüllt wurde. Daher hatte auch der Kirchhof so 
wenig Abstechendes für mich gegen die Jugendfrische der Natur, daß 
er mich vielmehr traulich einlud, über die bethauten Gräber zu wan¬ 
dern, als schwebte auch über ihnen ein neues aufsprossendes Leben. 
Ich trat durch das große Gitterthor hinein und fühlte, wie gewöhn¬ 
lich, beim ersten Hinblicke auf die Hügelreihen einen Eindruck von 
Stille, wie ihn eine weite menschenleere Abendlandschaft kaum erregen 
kann. Desto überraschender erschien mir ein kleines Mädchen, welches 
seitwärts ganz allein auf einem Grabhügel saß, an dem ein altes 
hölzernes Kreuz stand. In seinem Schooße hatte es ein Körbchen, 
das mit Blumen gefüllt war. Es schien dieselben unterwegs und 
auf dem Kirchhofe gepflückt zu haben; denn sie waren frisch, wie 
sie aus freiem Boden hervorwachsen, zugleich aber lieblich und sinnig 
gewählt. Besonders leuchteten die blauen Vergißmeinnicht.
	        
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