Full text: [Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband])

Becker: Odysseus erzählt den Phäaken seine Abenteuer. 
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teuern Sohne das Auge geblendet? Dennoch aber kann dir noch alles, 
wiewohl mit Mühe, gelingen, wofern du nur auf der Insel Thrinacia 
die Stiere des Helios unangetastet lässest. Aber tötest du einen der— 
selben, dann ist Rettung kaum weiter zu hoffen. Und ob du auch dein 
Vaterland noch wieder sähest, so würde es doch nur spät geschehen. 
Erst nach unendlicher Trübsal wirst du verlassen von all deinen Ge— 
fährten und unbekannt wie ein Bettler auf fremden Schiffen heimkehren, 
und auch zu Hause wirst du nur bitteres Elend finden. Andere werden 
von deiner Habe prassen, um deine Gattin werben und deinem Sohne 
Todesschlingen legen. Dann aber wird sich eine Gottheit deiner er— 
barmen, daß du mit List oder Gewalt die unbefugten Gäste in deinem 
Palaste tötest. So wirst du mitten unter den Deinen nach einem 
glücklichen Greisenalter heiter und in Frieden sterben.“ — „Wohl, Viresias,“ 
sprach ich. „Das also wird mein Schicksal sein. Nun sage mir doch, 
ich erblicke dort unter den Schatten auch meine alte Mutter, aber sie 
würdigt den Sohn keines Wortes, noch schaut sie mir gerade ins Antlitz. 
Wie fang' ich's an, daß sie mich erkennt?“ — „Welchen dieser Geister du 
auszuforschen verlangst,“ versetzte Tiresias, „den laß von diesem Blute 
trinken, dann kommt Bewußtsein und Sprache und alles menschliche 
Gefühl in ihn; wer aber nicht trinkt, der schwebt besinnungslos und 
schweigend wieder zurück“ Und sogleich ließ ich die liebe Mutter zu 
dem Blute. Sie trank und erkannte mich plötzlich mit freudigem Schrecken. 
Ich erzählte ihr kurz die Geschichte meiner Leiden und fragte sie, wie 
sie gestorben sei und was der Vater, die Gattin und der liebe Sohn 
zu Hause mache. Sie sagte mir, daß alle drei noch lebten und täglich 
mit Sehnsucht an mich dächten; der Vater sei schon ganz schwach vor 
Alter geworden; er wohne nicht mehr im Palaste, sondern auf dem 
Lande, wo er sich einen Weingarten angelegt habe. „Alle Pracht des 
Reichtums,“ sagte sie, „verschmäht er, und alle Bequemlichkeit flieht er, 
solange er dich nicht glücklich weiß. Er härmt sich darüber so ab, 
daß er ganz zum Kinde wird. Im Winter schläft er mit den Knechten 
in der Stube neben dem Herde auf der Erde hingestreckt, und im 
Sommer bettet er sich auf den abgefallenen Blättern des Weingartens 
unter freien Himmel. Und so wird ihn bald der Kummer verzehren, 
wie er mich verzehrt hat. Denn kein bösartiges Fieber, auch keine ver— 
derbliche Seuche hat mich dahingerafft; nur der Gram um dich, mein 
Sohn, hat mir das Leben geraubt.“ 
Sie ging, und an ihre Stelle drängten sich Scharen anderer 
Weiber, einst die Gattinnen berühmter Helden, die ich gekannt hatte. 
Sie tranken von dem Blute und erzählten mir ihre Schicksale. Aber 
mächtiger schwoll mir das Herz, als ich die Geister der lieben Freunde 
heranschweben sah, die einst meine Kampfgenossen gewesen waren vor 
Troja, Agamemnon, Achilles, Patroklus und Ajax, welche alle der Tod
	        
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