Full text: [Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband])

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A. Erzählende Prosa U. Sagen. 
Berge hinlenkte. Nimmer vermehrten oder verminderten sie sich, denn 
ihre Zahl war abgemessen; auch alterten sie nicht, sondern glänzten in 
unvergänglicher Jugendstärke. „Freunde,“ sprach ich, „das ist die ver— 
hängnisvolle Insel, an die unser Schicksal geknüpft ist. Schon sehe 
ich die verführerischen Herden des Helios, auf deren Berührung der 
Tod steht. Laßt uns lieber der Versuchung entfliehen und steuert an 
dieser Küste vorbei; wir finden ja wohl ein anderes Eiland zum Landen.“ 
Aber das war ihnen eine unwillkommene Rede. Ein allgemeines 
Murren erhob sich, und der widerspenstige Eurylochus nahm das Wort 
und sprach: „Grausamer Mann, du trotzest vor Mut, denn dir erschlafft 
nie ein Gelenk, du bist wie von Stahl und Eisen. Aber wir anderen 
alle sind von der schweren Arbeit so ermattet, daß wir nicht weiter 
können, und du willst uns nicht einmal die nötige Erquickung ver— 
gönnen? Blind in die Nacht sollen wir hineinrudern, wo wir weder 
Weg noch Steg kennen und wo wir verloren sind, sobald sich nur ein 
widriger Wind erhebt? Laß uns doch wenigstens ans Land stoßen, 
damit wir dort etwas Nahrung zu uns nehmen und die Nacht bei dem 
Schiffe ausruhen. Morgen mit dem frühesten können wir ja dann 
wieder einsteigen und ins offene Meer steuern.“ Alle stimmten in dies 
Verlangen ein, und ich sah nun wohl, daß ein Gott mir zuwider war 
und Boͤses über uns verhängte. Da sprach ich zu ihnen: „Ihr alle 
zwingt mich einzelnen leicht zum Gehorsam, allein schwört mir, keines 
jener Tere anzurühren, sondern euch mit der Speise zu begnügen, 
welche uns Circe mitgegeben hat!“ Das schwuren sie bereitwillig, und 
so legte der Steuermann am Ufer an. Wir stiegen aus und aßen 
zur Nacht. Dann schütteten wir im Gespräch den Gram des Herzens 
aus über den schrecklichen Tod unserer lieben Gefährten, und spät erst 
stillte der süßbetäubende Schlummer unsere Thränen. Aber ach, welch 
ein Erwachen stand uns aus diesem Schlummer bevor! Noch war 
die Nacht nicht vorüber, und die letzten Sterne funkelten noch am 
Himmel, als ein ungeheurer Orkan sich erhob und Meer und Land in 
dickes, schwarzes Gewölk verhüllte. Als der Morgen kam, zogen wir 
unter fürchterlichem Regen das Schiff in eine Felsgrotte und bargen 
uns selbst, so gut wir konnten. „Freunde,“ sprach ich, „wir kommen 
heut nicht fort von dieser Insel, aber wir haben zum Glück noch 
Vorrat von Speise und Trank im Schiffe. Darum beschwöre ich euch 
nochmals: rühre mir keiner die heiligen Stiere an, damit uns nichts 
Böses begegne!“ 
Sie alle versprachen's, und ich beruhigte mich. Aber den ganzen 
Monat hindurch wechselte Südwind mit rauhem Ostwinde, und wir 
mußten noch immer liegen bleiben. Solange es an Speise und Wein 
nicht fehlte, schonten meine Gefährten der Rinder in ängstlicher Sorge 
für ihr eigenes Wohl. Als aber endlich der ganze Vorrat verzehrt
	        
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