168 A. Erzählende Prosa. V. Geschichtliche Charakterzüge u. Lebensbilder.
für den glücklichsten Menschen erklären, den er auf seinen Reisen ge—
sehen habe. Nach dieser Antwort glaubte er, wenn er nochmals frage,
wer nach Tellus der Glücklichste sei, werde Solon ihm doch wenigstens
die zweite Stelle einräumen. Deshalb fragte er, wen Solon nach jenem
Manne als den Glücklichsten befunden habe. Solon antwortete: „Die
beiden Brüder zu Argos, Kleobis und Biton. Sie waren starke, junge
Männer, Söhne einer Priesterin der Hera und lebten in guten Um—
ständen. Auch hatten sie zugleich miteinander schon Preise in Kampf—
spielen davongetragen. Doch erwiesen sie ihre Stärke besonders einmal,
da ihre Mutter zum Gottesdienste auf einem Wagen fahren sollte und
die Rinder, welche man gewöhnlich vor den Wagen spannte, nicht zur
rechten Zeit vom Felde hereinkamen. Sie spannten sich selbst vor den
Wagen und zogen so ihre Mutter wohl eine Meile weit bis zum
Tempel der Hera. Das ganze Volk von Argos stand umher und schaute
sie mit Verwunderung an. Die Männer priesen die ungemeine Stärke
der Jünglinge, die Frauen riefen, das sei eine glückliche Mutter, die
solche Söhne geboren habe. Die Mutter selbst, voll Freude über die
Ehre, welche ihr und ihren Kindern widerfuhr, und über die fromme
Liebe ihrer Söhne, stellte sich vor das Bildnis ihrer Göttin und betete
zu ihr, daß sie diesen ihren Söhnen das bescheren möchte, was für
den Menschen das Beste wäre. Kleobis und Biton verrichteten hierauf
mit den anderen Argivern ihr Opfer, schmausten mit ihnen und legten
sich im Tempel nieder. Da schliefen sie ein und wachten nicht mehr auf.
Die Göttin gab also zu erkennen, wie viel es für den Menschen besser sei,
zu sterben als zu leben. Denn eben das war die Erhörung des mütter—
lichen Gebetes, daß sie nicht mehr aufwachten. Ihre Mitbürger ließen
von beiden Bildsäulen fertigen und im Tempel zu Delphi aufstellen.“
Qrösus war unwillig darüber, daß Solon ihn, einen so mächtigen
und wreichen König, in Ansehung der Glückseligkeit nicht einmal ge—
wöhnuchen Bürgern gleichstellen wollte. Solon antwortete, wenn ein
Mens.) siebenzig Jahre lebe, so mache das fünfundzwanzigtausend fünf—
hundert und fünfzig Tage aus, die Schalttage gar nicht mitgerechnet.
Unter diesen vielen tausend Tagen sei kein einziger ganz wie der andere
hinsichtlich dessen, was dem Menschen begegne. „Und so kommt,“ sagte
er, „notwendigerweise über jeden bei dieser Abwechselung der mensch—
lichen Schicksale auch viel unerwartetes Mißgeschick. Daher pflegen
wir Griechen keinen Menschen glücklich zu preisen, solange sein gegen—
wärtiges Glück noch einen Wechsel erleiden kann. Ich sehe wohl, daß
du im Besitze großen Reichtums und ein Herrscher über viele Menschen
bist. Aber glücklich kann ich dich doch nicht nennen, bevor ich erfahre,
daß du dein Leben auch glücklich beschlossen hast. Bei jedem Ding
muß man auf den Ausgang achten. Viele Menschen hat Gott schon
glücklich beginnen lassen und dann von Grund aus verderbt.“ Das