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IV. Sagen.
den langen Tag. Jetzt ersann ich einen Anschlag, uns zu befreien
und zugleich die erschlagenen Gefährten §u rächen. Sein großes Auge
wollte ich ihm ausbohren, und zwar nicht mit dem Schwerte, sondern mit
einem glühenden Pfahle. Dazu erblickte ich in der Höhle ein herrliches
Werkzeug, des Riesen eigene Keule aus grünem Olivenholz, so lang
und dick wie ein Mastbaum. Die legte ich mir zurecht und hieb ein
Ende von der Spitze ab, etwa ein paar Ellen lang. Meine Gefährten
mußten mir's glätten, dann spitzte ich selber den Pfahl oben zu und
härtete die Spitze in der lodernden Flamme des Feuers. Jetzt war
meine Waffe fertig, und sorgfältig verbarg ich sie unter dem Miste,
womit der Fußboden dicht belegt war. Daraus losten meine Gefährten,
wer mit dem Pfahl ins Auge des schlafenden Riesen stoßen sollte, und
so erwarteten wir unruhig den Abend und des Kpklopen Rückkehr.
Endlich kam er mit seinen gemästeten Herden und trieb sie wieder
zu uns herein. Diesmal ließ er keine Tiere in dem Vorhofe zurück,
sondern brachte die ganze Herde in die Höhle, mochte dies sein aus
Argwohn, oder weil ein Gott es so fügte. Dann setzte er den ge¬
waltigen Stein vor, melkte seine Schafe und Ziegen, fraß wieder zwei
von meinen armen Gefährten auf und legte frisches Holz an, das
Feuer zu unterhalten. Jetzt holte ich den versteckten Weinschlauch hervor
und ging mit einer hölzernen Kanne Wein dreist auf ihn zu.
„Sieh da, Kyklop," sprach ich, „hier habe ich zu trinken. Ver¬
suche einmal. Auf Menschenfleisch schmeckt der Wein gut. Nimm,
damit du doch siehst, was für einen köstlichen Trunk wir auf unserm
gestrandeten Schiff gehabt haben. Ich hatte den Wein für dich zum
Opfer mitgebracht, wenn du mir die Bitte gewährt hättest, gastfreundlich
meine Heimfahrt zu fördern. Aber wahrlich, du machst es zu arg!
Böser Mann, wer wird dich künftig wieder besuchen, wenn du so mit
deinen Gästen verfährst?"
Er nahm den Krug und trank. Hei! das behagte ihm gewaltig!
Unversehens erheiterten sich seine Mienen, und als er den tiefen Krug
geleert hatte, sprach er mit Schmunzeln:
„Schenk doch noch einmal ein aus deinem Schlauche da und sage
mir auch, wie du heißest, damit ich dich mit einem Gastgeschenk er¬
freuen kann! — Der Tausend! Was ist das für ein herrliches Ge¬
tränk! Hier wächst auch Wein, große Trauben, süß von Geschmack,
aber wahrhaftig, gegen diesen ist er nur Wasser. — So recht, mehr her!"
Ich schenkte ihm dreimal voll, und er schlürfte in vollen Zügen,
der Tropf. Bald sah ich mit innigem Vergnügen, wie der starke Wein
seine Sinne umnebelte. Da fiel mir eine treffliche List ein. „Höre,"
sprach ich, „meinen Namen begehrst du? Nun so wisse denn: Niemand
heiß' ich. Niemand nennen mich Vater und Mutter und alle anderen