Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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35. Die Königin in Magdeburg. 
Eines Morgens legte mein Vater mit ernstem Antlitz seine gestickte Uniform 
an, in der ich ihn noch nie gesehen hatte, und in welcher er mir, Degen an der 
Seite, dreieckigen Hut auf dem Haupte, wunderbar und fremd vorkam. Ich drückte 
mich, nachdem ich den Glanz dieses Anblicks oben auf des Vaters Zimmer ein¬ 
gesogen, unten in eine Ecke des Hausflurs, um den Genuß noch einmal zu haben. 
Er schritt an mir vorüber, ohne mich wahrzunehmen, nachdenklich vor sich hinsehend; 
und ich war ganz erschüttert und betäubt, denn ich hatte keine Ahnung davon ge¬ 
habt, daß ein solcher Prachtrock in der Welt, geschweige daß er im Hause sei. 
Gleich nachher donnerten die Kanonen, läuteten die Glocken, sprengten die 
rothen Kammerhusaren durch die Straße, lärmte und schrie das Volk- und lief im 
wildesten Rennen nach dem Brückthore. Es war uns Kindern streng verboten 
worden, uns in das Getümmel zu wagen, aber wie wäre da Haltens gewesen! — 
Das Haus war von seinen Bewohnern geleert und nur der Hut einer alten Wär¬ 
terin anvertraut. Der vorbeizukommen hielt nicht schwer. Rasch hatte ich die 
Thüre hinter mir und war mit Len letzten Nachzüglern auch im vollen Rennen 
nach dem Brückthore. Aber in der Nähe desselben kamen uns glänzende Equipagen 
entgegen gefahren, nachflutete der Volksstrom dem Fürstenwalle zu; von diesen 
Wogen wurde auch ich gefaßt, nun schwamm ich mit der Flut und wurde von ihr 
ruckweise aus die Stirn des Walles befördert. 
Dort stand Kopf an Kopf, und es schien fast unmöglich bis zum Gouverne¬ 
mentsgebäude vorzudringen, in welchem die Majestäten abgestiegen waren. Aber was 
wäre einem von Neugier brennenden Knaben in solchem Falle unausführbar? Ge¬ 
hend und kriechend, schiebend und geschoben, stoßend und gestoßen schrotete ich mich 
die schwarze Menschenmasse hindurch und gelangte endlich glücklich, wenn auch etwas 
gequetscht, an einen Ort, wo ich nun unter den Vordersten gerade der großen Sa¬ 
lonthüre gegenüber stand, in welcher die Herrscher erscheinen mußten, wenn sie sich, 
wie jedermann erwartete, dem Volke zeigen wollten. 
Da stand ich denn also an der glücklichsten Stelle. Aber bald übersiel mich 
ein entsetzliches Bangen. Im Kampf und Ringen stürmt der Mensch sich bewußtlos 
auf die schmale Zinne eines Thurms hinauf, aber wenn er die Zinne erobert 
hat und nun da droben steht, kann ihm schwindlich werden. Mir fiel plötzlich cent- 
nerschwer aufs Herz, daß ich denn doch wider das ganz ausdrückliche Verbot meines 
Vaters da vorhanden sei, welches mir so viel gelten mußte, als ein Befehl Fried¬ 
richs seinen Offizieren gegolten hatte. Meinem Geiste trat eine furchtbare Phantasie 
nahe; ich dachte, der Vater könne da statt des Königs oder der Königin in der 
Salonthüre sich zeigen, sein Auge den Ungehorsamen entdecken. Zurückweichen war 
völlig unmöglich, die Menge hinter mir bildete eine undurchdringbare Mauer. Ich 
mußte also stehen bleiben, den Fügungen des Geschicks verfallen, und mich noch 
vor den beiden rothen Kammerhujaren in Acht nehmen, welche die Brücke nach dem Sa¬ 
lon gegen den Andrang zu schützen hatten. Diese machten nicht viel Umstände mit dem 
Volke, und es ging hier wie aller Orten bei solchen Gelegenheiten. Nicht die Drängen¬ 
den erlitten unsanfte Behandlung, sondern die Gedrängten, die unschuldigen Vordersten. 
Aber bald lösete ein reizendes Schauspiel alle Angst auf und jedes herbe
	        
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