Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

A. Erzählende Prosa. 
i. Märchen, Sagen, Fabeln, Parabeln. 
1. DaS Hirtenbüblein. 
Es war einmal ein Hirtenbübchen, das war wegen seiner weisen Antworten, 
die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt. Der König des Landes 
hörte auch davon, glaubte es nicht und ließ das Bübchen kommen. Da sprach er 
zu ihm: Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vorlegen will, Antwort geben, 
so will ich dich ansehen wie mein eigen Kind, und du sollst bei mir in meinem 
königlichen Schloß wohnen. Sprach das Büblein: Wie lauten die drei Fragen? 
Der König sagte: Die erste lautet, wie viel Tropfen Wasser sind in dem Weltmeer? 
Das Hirtenbüblein antwortete: Herr König, laßt alle Flüsse auf der Erde ver¬ 
stopfen, damit kein Tröpflein mehr daraus ins Meer läuft, das ich nicht erst ge¬ 
zählt habe, so will ick euch sagen, wie viel Tropfen im Meere sind. Sprach der 
König: Die andere Frage lautet, wie viel Sterne stehen am Himmel? Das Hir¬ 
tenbübchen sagte: Gebt mir einen großen Bogen weiß Papier, und dann machte 
es mit der Feder so viel feine Punkte darauf, daß sie kaum zu sehen und fast gar 
nicht zu zählen waren und einem die Augen vergingen, wenn man darauf blickte. 
Darauf sprach es: So viel Sterne stehen am Himmel, als hier Punkte auf dem 
Papier, zählt sie nur. Aber niemand war dazu im Stand. Sprach der König: 
Die dritte Frage lautet, wie viel Secunden hat die Ewigkeit? Da sagte das Hir¬ 
tenbübchen : In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die 
Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt alle 
hundert Jahr ein Vögelein und wetzt fein Schnäblein daran, und wenn der ganze 
Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Secunde von der Ewigkeit vorbei. 
Sprach der König: Du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser und 
sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlöffe wohnen, und ich will dich an¬ 
sehen wie mein eigenes Kind. 
Grim m.
	        
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