39
erbarme dich, bleib hier auf dem Thurm; mach dein Kind nicht zur Waise, dein Weib nicht
zur Witwe! Das Heer stelle dort an den Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe
frei und ist am leichtesten zu ersteigen, dorthin haben die tapfersten Krieger, die Ajax
beide, Jdomeneus, die Atriden und Diomedes schon dreimal den Sturm hingelenkt,
sei es, daß ein Seher es ihnen offenbarte, sei's, daß das eigene Herz dieselben trieb!"
Liebreich antwortete Hektar seiner Gemahlin: „Auch mich härmt alles dieses,
Geliebteste; aber ich müßte mich vor Trojas Männern und Frauen schämen, wenn
ich, erschlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuschaute. Auch mein eigner Muth
erlaubt es mir nicht, er hat mich immer gelehrt, im Vorderkampfe zu streiten; zwar
das Herz weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja hinsinkt
und Priamus und all sein Volk; aber weder der Trojaner Leid, noch der eigenen
Eltern und der leiblichen Brüder, wenn sie dann unter dem Schwert der Griechen
fallen, geht mir so zu Herzen, wie das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer
in die Knechtschaft führen wird, und du dann zu Argos am Webestuhl sitzest oder
Waffer trägst, von hartem Zwang belastet, und dann wohl ein Mann, dich in
Thränen schauend, spricht: „Das war Hektors Weib!" Decke mich der Grabhügel, ehe
ich von deinem Geschrei und deiner Entführung hören muß!" So sprach er unv
streckte die Arme nach seinem Knäbchen aus; aber das Kind schmiegte sich schreiend
an den Busen der Amme, von der Zärtlichkeit des Vaters erschreckt und vor dem
ehernen Helm und dem fürchterlich flatternden Roßschweif erbangend. Der Vater
schaute das Kind und die Mutter lächelnd an, nahm sich schnell den schimmern¬
den Helm vom Haupte, legte ihn zu Boden, küßte sein geliebtes Söhnchen und
wiegte es aus dem Arm. Dann flehte er zum Himmel empor: „Zeus und ihr Göt¬
ter! laßt dies mein Knäblein werden wie mich selbst, voranstrebend dem Volk der
Trojaner; laßt es mächtig werden in Troja und die Stadt beherrschen, und dereinst
sage man, wenn es beutebeladen aus dem Streite heimkehrt: „Der ist noch weit
tapferer, als sein Vater," und darüber soll sich seine Mutter herzlich freuen!" Mit die¬
sen Worten gab er den Sohn der Gattin in den Arm, die unter Thränen lächelnd
ihn an den Busen drückte. Hektar aber streichelte sie, inniger Wehmuth voll, mit der
Hand und sagte: „Armes Weib, traure mir nicht zu sehr im Herzen, gegen das
Geschick wird mich niemand tödten, dem Verhängniß aber ist noch kein Sterblicher ent¬
ronnen. Auf, geh du zur Spindel und zum Webestuhl und befiehl deinen Weibern! Den
Männern Trojas liegt die Sorge für den Krieg ob, am meisten aber mir!" Als er dieß ge¬
sagt, setzte sich Hektar den Helm auf und ging davon. Andromacke schritt dem Hause zu,
indem sie wiederholt rückwärts blickte und herzliche Thränen weinte. Als die Mägde in der
Kammer sie erblickten, theilte sich ihnen allen ihr Gram und ihre Betrübniß mit, und
Hektar wurde bei lebendigem Leib in seinem Pallast betrauert. G. Schwab.
23. Hektors Ende.
Die Achäer harrten des Achilles dicht unter den Mauern von Troja, die
Schilder über die Schultern geworfen. Me Troer waren in der Stadt und schauten
zum Theil von den Mauern herab dem weiteren Verlause der Schlacht zu. Nur
der einzige Hektar war draußen am Thore zurückgeblieben, entschloffen, noch einmal
den Kampf mit Achilles zu versuchen; denn er glaubte es seinem Vaterlande und