Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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welches Kind ihm das allerliebste wäre? „Sie sind mir alle gleich lieb." Da sprach 
der Herr: „Wilhelm, du bist ein guter Schütz, und find't man nicht deines Gleichen; 
das wirst du mir jetzt bewähren; denn du sollst deiner Kinder einem den Apfel 
vom Haupte schießen. Thust du das, so will ich dich für einen guten Schützen achten." 
Der gute Tell erschrak, fleht um Gnade, und daß man ihm solches erließe, denn 
es wäre unnatürlich; was er ihm sonst hieße, wolle er gern thun. Der Vogt aber 
zwang ihn mit seinen Knechten und legte dem Kinde den Apfel selbst auss Haupt. 
Nun sah Tell, daß er nicht ausweichen konnte, nahm den Pfeil und steckte ihn 
hinten in seinen Göller, den andern Pfeil nahm er in die Hand, spannte die Arm¬ 
brust und bat Gott, daß er sein Kind behüten wolle; zielte und schoß glücklich 
ohne Schaden den Apfel von des Kindes Haupt. Da sprach der Herr, das wäre 
ein Meisterschuß: „aber eins wirst du mir sagen: was bedeutet, daß du den ersten 
Pfeil hinten ins Göller stießest?" Tell sprach: „Das ist so Schützen Gewohnheit." 
Der Landvogt ließ aber nicht ab und wollte es eigentlich hören; zuletzt sagte Tell, der 
sich fürchtete, wenn er die Wahrheit offenbarte: wenn er ihm das Leben sicherte, 
wolle er's sagen. Als das der Landvogt gethan, sprach Tell: „Nun wohl! sintemal 
ihr mich des Lebens gesichert habt, will ich das Wahre sagen." Und fing an und 
sagte: „Ich habe es darum gethan, hätte ich des Apfels gefehlt und mein Kindlein 
geschossen, so wollte ich euer mit dem andern Pfeil nicht gefehlt haben." Da das 
der Landvogt vernahm, sprach er: „Dein Leben ist dir zwar zugesagt; aber an ein 
Ende will ick dich legen, da dich Sonne und Mond nimmer bescheinen;" ließ ihn 
sangen und binden, und in denselben Nachen legen, auf dem er wieder nach Schwitz 
schiffen wollte. Wie sie nun auf dem See fuhren und kamen bis gen Axen hinaus, 
stieß sie ein grausamer starker Wind an, daß das Schiff schwankte, und sie elend 
zu verderben meinten; denn keiner wußte mehr dem Fahrzeug vor den Wellen zu 
steuern. Indem sprach einer der Knechte zum Landvogt: „Herr, hießet ihr den Tell 
aufbinden, der ist ein starker, mächtiger Mann und versteht sich wohl auf das Wet¬ 
ter: so möchten wir wohl aus der Noth entrinnen." Sprach der Herr und rief 
dem Tell: „Willst du uns helfen und dein Bestes thun, daß wir von hinnen kom¬ 
men? so will ich dich heißen aufbinden." Da sprach der Tell: „Ja, gnädiger Herr, 
ich will's gerne thun und getraue mir's." Da ward Tell aufgebunden, und stand 
an dem Steuer und fuhr redlich dahin; doch so lugte er allenthalben auf seinen 
Vortheil und auf seine Armbrust, die nah bei ihm am Boden lag. Da er nun 
kam gegen einer großen Platte —die man seither stets genannt hat „des Tellen 
Platte" und noch heut bei Tag also nennet — däucht es ihm Zeit zu sein. daß 
er entrinnen konnte; rief allen munter zu, fest anzuziehen, bis sie auf die Platte 
kämen, denn wann sie davor kämen, hätten sie das Böseste überwunden. Also zo¬ 
gen sie der Platte nah, da schwang er mit Gewalt, als er dann ein mächtig starker 
Mann war, den Nachen, griff seine Armbrust und that einen Sprung auf die 
Platte, stieß das Schiff von ihm, und ließ es schweben und schwanken auf dem 
See. Lief durch Schwitz schattenhalb (im dunkeln Gebirg), bis daß er kam gen 
Küßnach in die hohle Gaffe; da war er vor dem Herrn hingekommen und war¬ 
tete sein daselbst. Und als der Landvogt mit seinen Dienern geritten kam, stand 
Tell hinter einem Staudenbusch und hörte allerlei Anschläge, die über ihn gingen, 
spannte die Armbrust auf und schoß einen Pfeil in den Herrn, daß er todt umsiel.
	        
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