Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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liegen noch ganz in der Ordnung, wie man Grundsteine zu legen pflegt, so daß 
augenscheinlich noch neue Häuser haben erbaut werden sollen, als die Stadt vom 
Waffer verschlungen worden ist. 
In der versunkenen Stadt ist noch immer ein wundersames Leben. Bei stil¬ 
lem Waffer sieht man oft unten in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große 
seltsame Gestalten in langen, faltigen Kleidern wandeln dann in den Straßen auf 
und ab; oft sitzen sie auch in goldenen Wagen oder auf großen schwarzen Pferden. 
Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; manchmal bewegen sie sich in 
langsamen Trauerzügen und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe ge¬ 
leiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend bei ruhiger 
See hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten, und am Ostermorgen 
— denn vom stillen Freitag bis zum Ostermorgen soll der Untergang von Vineta, 
gedauert haben — kann man die ganze Stadt sehen, wie sie früher gewesen ist. 
Sie steigt dann, ein warnendes Schattenbild, zur Strafe für ihre Abgötterei und 
Ueppigkeit mit allen ihren Häusern, Kirchen, Thoren, Brücken und Trümmern aus 
dem Waffer hervor, und man sieht sie deutlich über den Wellen. Wenn es aber 
Nacht oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Schiff sich den Trümmern nahen; 
ohne Gnade wird es an die Felsen geworfen, an denen es hülflos zerschellt, und 
keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben erretten. Von dem in 
der Nähe liegenden Dorfe Leddin führt noch jetzt ein alter Weg zu den Trümmern, 
den die Leute in Leddin von alten Zeiten her den Landweg nach Vineta nennen. 
Von den Trümmern der versunkenen Stadt, die der Volksglaube auch im 
Meeresschooße noch in alter Herrlichkeit träumt, singt Wilhelm Müller folgende Verse: 
Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde 
Klingen Abendglocken dumpf und matt, 
Uns zu geben wunderbare Kunde 
Von der schönen alten Wunderstadt. 
In der Fluten Schooß hinabgesunken, 
Blieben unten ihre Trümmer stehn. 
Ihre Zinnen laffen goldne Funken 
Widerscheinend auf dem Spiegel sehn. 
Und der Schiffer, der den Zauberschimmer 
Einmal sah im hellen Abendroth, 
Nach derselben Stelle schifft er immer, 
Ob auch ringsumher die Klippe droht. 
Bäßler. 
36. Der Löwe und der Hase. 
Ein Löwe würdigte einen drolligten Hasen seiner näheren Bekanntschaft. Aber 
ist es denn wahr. fragte ihn einst der Hase, daß euch Löwen ein elender krähen¬ 
der Hahn so leicht verjagen kann? 
Allerdings ist es wahr, antwortete der Löwe; und es ist eine allgemeine 
Anmerkung, daß wir großen Thiere durchgängig eine gewiffe kleine Schwachheit an 
uns haben. So wirst du, zum Exempel, von dem Elephanten gehört haben, daß 
ihm das Grunzen eines Schweins Schauder und Entsetzen erwecket. 
Wahrhaftig? unterbrach ihn der Hase. Ja, nun begreif ich auch, warum wir 
Hasen uns so entsetzlich vor den Hunden fürchten. Lessing.
	        
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