Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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gemacht! Er hat über mehr als zweihundert Feinde nach und nach triumphirt und 
ihre schwarzen Seelen in das Reich des Verderbens gesandt. Was Wunder also, daß 
er endlich doch einem unterliegen muhte! 
So würde sich ein Leichenredner ausdrücken, sagte der Fuchs; der trockene 
Geschichtschreiber aber würde hinzusetzen: die zweihundert Feinde, über die er nach 
und nach triumphirte, waren Sckafe und Esel; und der eine Feind, dem er unter¬ 
lag, .war der erste Stier, den er sich anzufallen erkühnte. Lessing. 
45. Der Wols auf dem Todtenbette. 
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf 
sein vergangenes Leben zurück. Ich bin freilich ein Sünder, sagte er; aber doch, 
ich hoffe, keiner von den größten. Ich habe Böses gethan; aber auch viel Gutes. 
Einstmals, erinnere ich mich, kam mir ein blöckendes Lamm, welches sich von der 
Heerde verirret hatte, so nahe, daß ich es gar leicht hätte würgen können; und ich 
that ihm nichts. Zu eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen 
eines Schafes mit der bewundernswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine 
schützenden Hunde zu fürchten hatte. % 
Und das alles kann ich dir bezeugen, fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum 
Tode bereiten half, ins Wort. Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Um¬ 
stände dabei. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem Beine so jämmerlich 
würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog. 
Lessing. 
46. Der Rangstreit der Thiere. 
In vier Fabeln. 
1. 
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Thieren. Ihn zu schlichten, 
sprach das Pferd, lasset uns den Menschen zu Rathe ziehen; er ist keiner von den 
streitenden Theilen und kann desto unparteiischer sein. 
Aber hat er auch den Verstand dazu? ließ sich ein Maulwurf hören. Er 
braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckte Vollkommenheiten zu erkennen. 
Das war sehr weislich erinnert! sprach der Hamster. 
Ja wohl! rief auch der Igel. Ich glaube es nimmermehr, daß der Mensch 
Scharfsichtigkeit genug besitzet. 
Schweigt ihr! befahl das Pferd. Wir wissen es schon: Wer sich auf die Güte 
seiner Sache am wenigsten zu verlaffen hat, ist immer äm fertigsten, die Einsicht 
seines Richters in Zweifel zu ziehen. 
2. 
Der Mensch ward Richter. — Noch ein Wort, rief ihm der majestätische 
Löwe zu, bevor du den Ausspruch thust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du un¬ 
sern Werth bestimmen?
	        
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