Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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Du scherzest; fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfre ich kaum im ganzen 
Jahre dem Pan. 
Auch nicht viere? fragte der Wolf weiter'; und der Schäfer schüttelte spöttisch 
den Kopf. 
Drei? — Zwei? — — 
Nicht ein einziges; fiel endlich der Bescheid. Denn es wäre ja wohl thöricht, 
wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich mich durch meine 
Wachsamkeit sichern kann. 
3. 
Aller guten Dinge sind drei; dachte der Wolf und kam zu einem dritten Schäfer. 
Es geht mir recht nahe, sprach er, daß ich unter euch Schäfern als das grau¬ 
samste, gewisienloseste Thier verschrieen bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, 
wie unrecht man mir thut. Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Heerde in 
jenem Walde, den niemand unsicher macht, als ich, frei und unbeschädigt weiden 
dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmüthiger, könnte ich uneigen¬ 
nütziger handeln? — Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn? 
O über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund? sprach der Schäfer. 
Was geht dich mein Alter an? Immer noch jung genug, dir deine liebsten 
Lämmer zu würgen. 
Erzürne dich nicht, alter Isegrim. Es thut mir leid, daß du mit deinem 
Vorschlage einige Jahre zu spät kömmst. Deine ausgebisienen Zähne verrathen dich. 
Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich desto gemächlicher, mit desto weniger 
Gefahr nähren zu können. 
4. 
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch zu dem vierten 
Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte 
sich den Umstand zu Nutze. 
Schäfer, sprach er, ich habe mich mit meinen Brüdern im Walde veruneini¬ 
get, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. 
Du weißt, wie viel du von ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt 
deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, daß 
sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen. 
Du willst sie also, versetzte der Schäfer, gegen deine Brüder im Walde be¬ 
schützen ? 
Was meine ich denn sonst? Freilich. 
Das wäre nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Hürden einnähme, 
sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich beschützen? Einen 
Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das 
halten wir Menschen — 
Ich höre schon, sagte der Wolf, du fängst an zu moralisiren. Lebe wohl! 
5. 
Wäre ich nicht so alt! knirschte der Wolf. Aber ich muß mich, leider, in die 
Zeit schicken. Und so kam er zu dem fünften Schäfer. 
Kennst du mich, Schäfer? fragte der Wolf. 
Deinesgleichen wenigstens kenne ich, versetzte der Schäfer.
	        
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