106 22. Karl der Große als Bildner seines Volkes.
Freund, der beste Lehrer, dem auch des Königs Geist bei jeder
Lehrfrage sich willig unterordnete. Gerade jetzt war er aus
England zurückgekehrt, wo ihn die Heimatliebe einige Jahre fest¬
gehalten. und der König hatte ihn zum Abt des reichen Klosters
von Tours gemacht. Von einer Zahl würdiger Schüler be¬
gleitet, war der würdige Herr zu Hofe gekommen, nicht nur um
über die Verse des jüngeren Geschlechtes zu richten, auch als
Ratgeber des Königs in Kirche und Schule. Hochverehrt war
sein ehrliches, ernsthaftes Wesen, seine Schüler — und fast das
ganze jüngere Geschlecht des Hofes gehörte dazu — achteten ihn
wie einen Vater. Und der selbstlose Mann, der jedem seiner
Zöglinge die wärmste Teilnahme bewahrte, llahm auch die Rechte
eines Vaters in Anspruch, wo es ihm nötig schien. Er warnte,
bat und strafte in seinen Briefen, selbst die Söhne des Königs
und vornehme Hofleute. Groß war seine Korrespondenz mit
Geistlichen und Laien, sogar gegen den König übte er ehrfurchts¬
voll die Pflicht eines niahnenden Freundes. Der vielleicht gerade
mit ihm sprach, war sein talentvoller Schüler, der ritterliche
Angilbert, aus vornehmem Geschlecht, seit seiner Kindheit anl
Königshofe erzogen, an diesem poetischen Hofe die edelste Dichter¬
gestalt, dem Karl selbst den akademischen Namen Homer gegeben
hatte, weil er daran arbeitete, die Thaten des großen Königs in
einem lateinischen Epos zu besingen, von dem uns nur ein Bruch¬
stück erhalten ist, — das beste, was die Kunst des Hofes ge¬
schaffen hat. Neben ihm ragte die hohe Gestalt eines Fremden
mit ergrauendem Haare, es war der Ostgote Theodulf. den Karl
aus Italien mitgebracht und zum Abte von Fleury, dann zum
Bischof von Orleans gemacht hatte: er war ein Mann von
Welt, berühmt als Dichter und Gelehrter, gefürchtet wegen seiner
scharfen Distichen, mit Angilbert eng befreundet; in der Akademie
hatte er sich, seinen Namen übersetzend, den Dichtcrnamen Lupus
gegeben. Wer aber ist der kleine Herr, der geschäftig hin und
her läuft wie eine Ameise, bald Bücher und Schriftrollen in das
Zimmer des Königs trägt, immer höflich, einer der jüngsten im
Kreise, mit schönen klugen Augen und freundlichem Antlitz, das
einen feinen, klaren Geist verkündet? Er hat viele Namen, er
heißt Beseleel, nach dem Erbauer der Stiftshütte, die Genossen
der Akademie aber nennen ihn im Scherze Nardnlus, den kleinen