Full text: Für Klasse II der höheren Knabenschulen, Klasse V der höheren Mädchenschulen (Band 3, [Schülerband])

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4. Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater 
ilog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine zarte Brut zum 
erstenmal aus dem Neste in die Luft führt. Doch schwang er 
besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm 100 
nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu 
sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald 
war ihnen zur Rechten Samos, zur Linken Faros und Delos, 
die Eilande, vorübergeflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie 
schwinden, als der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zu- 105 
versichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in ver¬ 
wegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Region 
zusteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die 
Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzu kräftigen Strahlen 
das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt; ehe es Ikarus nur 110 
bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den 
Schultern entsunken, und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er 
hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; 
doch ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Meeres¬ 
flut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dä- 115 
dalus, hinter sich nach seinem Sohne blickend, wie er von Zeit 
zu Zeit zu tun gewöhnt war, nichts mehr von ihm gewahr 
wurde. „Ikarus, Ikarus!“ rief er trostlos durch den leeren 
Luftraum. Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke 
nach der Tiefe. Da sah er im Wasser die Federn schwimmen. 120 
Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne 
Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den 
Leichnam seines unglückseligen Kindes ans Gestade spülten. 
Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelte Vater 
sorgte für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo 125 
er sich niedergelassen hatte, und wo der Leichnam ans Ufer 
geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das 
jammervolle Ereignis erhielt das Eiland den Namen Ikaria. 
5. Als Dädalus seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von 
dieser Insel weiter nach der großen Insel Sizilien. Hier herrschte 130 
der König Kokains. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er 
bei ihm gastliche Aufnahme, und seine Kunst setzte die Ein¬ 
wohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen künst¬ 
lichen See, den er gegraben, und aus dem ein breiter Fluß sich
	        
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