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dem Wasser zu schwer; fliegst du aber zu hoch, so möchte
die Glut der Sonne dir die Flügel sengen und du wärest
ohne Rettung verloren. Ich will vorausfliegen dir die Bahn
und Richtung zu zeigen. Halte dich nur immer hinter mir!"
Er küßte bei diesen Worten seinen Sohn mit inniger, väter¬
licher Zärtlichkeit und Tränen netzten seine Wangen; denn
er konnte sich nicht verhehlen, daß sein Unternehmen und
die Art dieser Flucht sehr gewagt und gefahrvoll sei.
Endlich schwang er seine Flügel und erhob sich von
der Erde. Zugleich sah er voll ängstlicher Besorgnis nach
seinem Sohn zurück; Ikarus schwang ebenfalls rüstig seine
Flügel und flog freudig dem Vater nach. — Indem sie über
das griechische Inselmeer hin flogen, sah sie wohl hier und
da ein Hirte und blickte ihnen, auf seinen Stab ge¬
stützt, nach, oder ein Landmann sah sie erstaunt über sich
hinweg schweben oder ein Fischer, der mit der Angelrute am
Ufer saß. Und wer sie sah, staunte und dachte bei sich:
„Das sind keine Menschen, wenn sie schon menschliche Ge¬
stalt haben. Wie kämen sie denn zu Flügeln? Das sind
Götter, unsterbliche, übermenschliche Wesen, die bloß mensch¬
liche Gestalt angenommen haben und mit den Schwingen
eines Vogels dahinschweben."
Oft sah Dädalus mit Sorgen nach seinem Sohne zu¬
rück ; doch Ikarus schwang kräftig und fröhlich seine Flügel
und war immer nahe bei seinem Vater. Schon waren sie
so eine Strecke über das Meer dahingeflogen, hatten schon
manche Insel hinter sich gelassen, Samos, Delos und Faros,
— da begann der Knabe Ikarus plötzlich aus großer Lust
über seinen Flug die Flügel rascher zu schwingen und erhob
sich höher in die Lüfte ohne auf seinen besorgten Vater
zu achten. Weiter und immer weiter zog ihn seine Lust
hinauf, dem Lichte der Sonne näher.
Da erweichte sich aber allmählich das Wachs, womit
die kleinen Federn befestigt waren, welche die Zwischen¬
räume zwischen den größeren ausfüllten. Es träufte flüssig
herab, die Federn fielen ab; die Luft drang nun zwischen
den Spulen der größeren Schwungfedern hindurch und zerriß