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Schimmer. Und das alles liegt weit und verschollen hinaus. In diese
Einsamkeit dringt nichts von dorther, und man denkt an UHIands Wort:
' „Wir sehn in die weiten Lande
Und werden doch nicht gesehn."
Der heiße Sonnendunst lagert sich dichter. Die Waldnacht winkt
in ihre endlos dämmernden Hallen. Aber durch sie hin zieht schwer¬
mütig einsame Stille, und das Auge blickt staunend und fragend die
Pfeiler hinan, deren schwarze Zweige wie Trauerfahnen herabhangen.
Die Sphinr des Waldes, das alte Naturrätsel, tritt den Menschen an:
das Ahnen und Sehnen der Kreatur ergreift seine Seele. In der Tat,
wenn irgend etwas in der Pflanzenwelt an die große Verwandlung
und Erlösung zum Leben mahnt, der alles Geschaffene entgegenringt,
so ist es das ragende Dunkel, die schauernde Stille dieser Wälder. Die
Wasser rauschen von den Hügeln in alle Lande, das Ewige zu suchen;
das Feuer richtet sich geraden Zuges zum Himmel hinauf, es zu finden:
so gleicherweise türmt das Gebirge das Bedräng seiner Gipfel empor,
und darüber hinaus schauen die Waldhäupter, die Warten der harren¬
den Erde.
119. Wie der Bergwald erwacht.
Friedrich von Tschudi.
Lauliche und wärmere Luftzüge verkünden im Bergwalde den
Frühling und helfen emsig der Sonne den alten Schnee zu zer-
stücken und zerpflücken, ein mühseliges Werk. Halb gelungen, über¬
schüttet es ein trauriger Tag wieder mit hohem Gestöber. Aber
nicht für lange; wo nur einmal die alte, zähe Rinde weggefressen
ist, hält die letzte Lieferung nicht mehr vor. Die Wälder und
Büsche schütteln unwillig die unbequeme Last ab; das Grüne ar¬
beitet sich immer mehr heraus und bestickt sich rasch mit weißen,
gelben und blauen Blüten, wo es nur ein wenig Herr geworden ist.
Die ganze Gebirgslandschaft fängt an zu tönen und zu rauschen
in Wind und Wasser. Erst ein Stündchen oder zwei am höchsten
Mittag, dann auch des Nachmittags, bald darauf auch abends und
nachts und endlich Tag und Nacht hindurch bleiben die rieselnden,
plätschernden, rauschenden, brausenden Wasser lebendig. Die Felsen
tropfen, die Bäche haben sich durch die Schneebrücken und Eis¬
trümmer gefressen; neue Zuflüsse rinnen von jedem Absatz, von