Full text: Klasse 5 (sechstes Schuljahr) (Teil 5, [Schülerband])

die an Rechtschaffenheit und Eötterscheu diese beiden übertroffen hätten. 
Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Erde von stehenden 
Sümpfen überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden 
nur ein einziges Menschenpaar übrig sah, beide unsträflich, beide an¬ 
dächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte 
die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte dem 
Himmel die Erde und der Erde den Himmel wieder. Auch Poseidon, 
der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die Flut. Das 
Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder 
streckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, 
Hügel folgten, endlich breitete sich auch wieder ebenes Land aus, und 
zuletzt war die Erde wieder da. 
Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabes¬ 
stille versenkt. Tränen rollten bei diesem Anblick über seine Wangen, 
und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: „Geliebte, einzige Lebens¬ 
genossin! So weit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden 
hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander 
das Volk der Erde, alle andern sind in der Wasserflut untergegangen. 
Aber auch wir sind unsers Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. 
Jede Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch 
alle Gefahr vorüber ist, was fangen wir Einsamen aus der verlassenen 
Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt hätte, 
Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!" So 
sprach er, und das verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie 
sich vor einem halbzerstörten Altar der Göttin Themis auf die Knie 
nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehn: „Sag uns an, o 
Göttin, durch welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Geschlecht 
wieder her? O, hilf der versunkenen Welt wieder zum Leben!" 
„Verlasset meinen Altar," tönte die Stimme der Göttin, „umschleiert 
euer Haupt, löset eure gegürteten Glieder, und werfet die Gebeine 
eurer Mutter hinter den Rücken!" 
Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Eötterspruch. 
Pyrrha brach zuerst das Schweigen. „Verzeih mir, hohe Göttin," 
sprach sie, „wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht gehorsame 
und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine 
kränken will!" Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein 
Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem freundlichen Wort: 
„Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Göttin sind
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.