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Vorwort.
beschadet seiner spezifisch literarischen Zwecke auch Fragen des richtigen Lebens¬
taktes ebenso unbefangen zu behandeln wie die notwendigsten Forderungen der
körperlichen Erziehung. Die enge Fühlung mit dem Leben offenbart sich auch
im Bewußtsein, einer großen, gegenwarts- und zukunftsfrohen Nation anzu¬
gehören. Damit nun dies Bewußtsein grade auch aus der Kenntnis vorwärts¬
dringender deutscher Arbeit unserer Zeit Kraft schöpfe und damit dies Be¬
wußtsein auf solche Art davor bewahrt werde, daß es seinen Nährboden in
der patriotischen Phrase suche, erschien es mir von Bedeutung, unseren jungen
Leserinnen anschauliche Bilder aus solcher Kulturarbeit zu bieten, die uns aus
dem Rahmen des politisch geeinter! Vaterlandes hinausführen, weit über die
Grenzpfähle dieses Reiches, wo Millionen von Volksgenossen in hartem
Ringen der deutschen Bildung eine neue Keimat schaffen. So erweitert sich
die Bürgerkunde allmählich von selbst zur Deutschkunde. Wer wollte bezweifeln,
daß ihr grade im deutschen Lesebuch ein Ehrenplatz gebührt! Wir haben in
dieser Einsicht Persönlichkeiten das Wort gegeben, die drrrch Beruf und
Lebenserfahrung im tiefsten Innern mit der Gedankenwelt verwachsen sind,
mit der sie uns vertraut machen wollen.
Auf die Form der Darstellung, die Flüssigkeit des Stils ist bei allen
Prosastücken ein besonderes Augenmerk gerichtet worden. Den Stücken älterer
Äerkunft wurde, soweit es ohne Verletzung der Pietät anging und die Stil¬
gattung es erlaubte, ein Gewand gegeben, das dein heutigen guten Geschmack mehr
entspricht; aber es wurde dabei vermieden, „modern" zu sein um jeden Preis.
Der g r a m m a t i s ch e A n h a n g bringt die Satzlehre in erweiterter Form
wieder vollständig. Sie gehört natürlich in die V. Klasse. In den Band
fiir die VI. Klasse habe ich sie nur aufgenommen, um der durch die Aus¬
führungsbestimmungen über das höhere Mädchenschulwesen in Preußen (vom
12. Dezember 1908) eingeräumten Bewegungsfreiheit nicht willkürliche Schran¬
ken zu setzen. An der „Regelfassung" dieses Anhangs ist, wie zu erwarten
rvar, bemängelt worden, sie gehe oft über das Verständnis der Schülerinnen
hinaus. Dazu ist zu bemerken, daß diese „Regeln" überhaupt nicht als
Memorierstoff gedacht sind; sie sollen unter Führung der Lehrenden ver¬
standen, am allerwenigsten wörtlich eingelernt werden. Wenn der Weg zu
diesem Verständnis hie rrnd da etwas weiter herumführt, so hat das vielleicht
die Wirkung, daß die Schülerinnen unterwegs eine Vorstellung von wissen-
schaftlichem Denken bekommen, wenn arrch nur in seinen einfachsten Formen.
Gelingt das, so hat die nicht immer bequem zurechtgemachte Art der For¬
mulierungen ihren Zweck erfüllt.
Schöneberg, im Februar 1910.
L. Koro di.