Full text: Lesebuch für Mittel- und Oberklassen gehobener Mädchenschulen

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11. Der Engel des Herrn. 
Es dunkelt schon, bald naht die stille Nacht, 
Die Lerche schweigt und leise weh'n die Winde, 
Doch in der Schenke wird gezecht, gelacht, 
Die Krüge werden leer und voll geschwinde. 
Ein Treiben wüster und gemeiner Art, 
Ein wirr Geschrei erfüllt die weiten Hallen, 
In denen sich die Menschheit offenbart, 
Die halbberauscht hinab zum Thier gefallen. 
Der rohen Zecher freche Rede gleicht 
Dem wilden Strome, der den Damm zerbrochen, 
Die Sitte und der Anstand scheu entweicht, 
Es wird gebrüllt, geheult, doch nicht gesprochen. 
Sie raufen blutig sich im Winkel dort, 
Und Mancher eilt herbei als Streitesschlichter; 
Zwei And're aber würfeln ruhig fort 
Und schirmen vor dem Wind die schwanken Lichter. 
Am heißen Ofen sitzt ein schwacher Greis, 
Ein Invalid', voll Wunden und voll Klagen, 
Und um ihn her ein kleiner Hörerkreis, 
Dem er erzählt von Schlachten längst geschlagen. 
Ein Metzger rechnet auf dem braunen Tisch 
Die Ochsen ruhig Stück für Stück mit Kreide; 
Ein alter Fuhrmann ruft: Frau Wirthin, frisch! 
Noch eine Halbe Guten, eh' ich scheide. 
Ein Wilddieb, der schon lange still gelauscht, 
Dem jungen Förster oft den Tod geschworen, 
Er zieht das blanke Messer weinberauscht, 
Und ruft ihm wüthend zu: „Du bist verloren!" 
Doch horch! da tönt mit leisem Feierklang 
Das Glöcklein in der nahen Bergkapelle; 
Sie flüstern rings die Tifche sich entlang: 
„Der Engel ist's," und schweigen auf der Stelle. 
Den Blick gekehrt zum Kreuze an der Wand, 
Entblößt das Haupt sogleich ein jeder Zecher; 
Sie werden ernst, sie falten ihre Hände, 
Das halbe Wort verstummt im Mund der Sprecher.
	        
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