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Vaterländische Sagen.
ättut in ihr angsterfülltes Herz zurück. Sie machte sich abermals auf
den Weg, um den ihr wohlbekannten Pfad nach Hause zu suchen; allein
es ward Abend, und sie hatte ihn noch nicht gefunden. Zwar hatte sie
ihren Hunger durch einzelne halb gereifte Beeren zu stillen gesucht,
doch als die Sonne unterging, fühlte sie sich noch matter und
schwächer als gestern; sie sank in Verzweiflung zu Boden; bald
aber erlöste ein wohltätiger Schlaf sie von dem Bewußtsein ihrer
schrecklichen Lage.
B.
Als der dritte Morgen anbrach, betete sie inbrünstig zu Gott und
tat das Gelübde, daß sie sich ihm allein ergeben und Zeit ihres Lebens
nur ihm dienen wolle, wenn er ihr den Ausgang aus dem Walde zeigen
und sie wieder in ihr friedliches Vaterhaus zurückführen würde.
Kaum hatte sie dies gesagt, da brach ein Edelhirsch durch das
Dickicht und blieb, im Laufe anhaltend, vor der Knieenden stehen.
Furchtlos verharrte das herrliche Tier an ihrer Seite, berührte sie zu¬
letzt gar mit seinem Geweih und schien sie auffordern zu wollen, mit
ihm fortzugehen. Als sie aber dazu keine Anstalt machte, ließ sich der
Hirsch auf die Kniee nieder und lud sie anscheinend ein, sich seinem
Rücken anzuvertrauen. Die Jungfrau zögerte nicht länger, dies zu tun,
und mit sicherem Tritte trug das Tier sie bis an den Ansgang des
Waldes, von wo sie Tangermünde mit seinen Türmen vor sich liegen
sah. Aber selbst hier machte der Hirsch noch nicht Halt, sondern er
trug sie furchtlos weiter mitten durch das zusammenströmende Volk bis
in die Straßen der Stadt und nahm seinen Lauf bis zur Kirche. Dort
ließ er sich abermals auf die Kniee nieder. Die Jungfrau stieg ab und trat
in das Gotteshaus, um Gott für ihre wunderbare Rettung zu danken.
Der Hirsch hatte unterdessen ruhig vor der Kirchenpforte gewartet und
begleitete das Mädchen von da wie ein frommes Lamm in ihr Haus,
wo er von Stund an blieb. Zwar kehrte er manchmal in seine alte,
grüne Heimat zurück, doch nie blieb er lange weg; und da ihm die
Jungfrau ein Halsband angelegt hatte mit der Inschrift „Emerentias
Hirsch," so kannte ihn jedermann, und niemand in der ganzen Umgegend
hätte gewagt, dem guten Tiere etwas zuleide zu tun.
Jungfer Lorenz aber blieb ihrem Gelübde treu. Den Wald, in
dem sie sich verirrt hatte und der ihr Eigentum war, schenkte sie der
Kirche; er ist jetzt verschwunden und in Ackerland verwandelt worden,
das noch heute das „Lorenzfeld" heißt. In der Nicolaikirche ließ sie
einen Hirschkopf aufhängen, auf dem sie selbst in ganzer Figur dargestellt
ist. Man ließ ihn auch darin, als das Gotteshaus in ein Lazarett
umgewandelt wurde. Im Jahre 1831 aber brachte man das Bild¬
werk in die schöne Stephanskirche, wo es noch jetzt in der Nähe des
Altars hängt.