131. Die ewige Bũürde.
Der Kalif Hakkam, der die Pracht liebte, wollte cdie Gãrten
seines Palastes verschõnern und erweitern. Er kaufte alle benach-
barten Ländereien und bezahlte den Eigentümern so viel Geld
dafür, als sie verlangten. Nur eine arme Witwe fand sieh, die
das Erbteil ihrer Vater aus frommer Gewissenhaftigkeit nicht
veräubern wollte und alle Anerbietungen, die man ihr deswegen
machte, geradezu ausschlug. Den Aufseher der königlichen Ge-
baude verdroß der Eigensinn dieser Frau. Er nahm ihr das kleine
Land mit Gewalt weg, und die armeé Witwe kam weinend zum
Richter. Ibn Beschir war eben Kadi der Stadt. Er lieb sieh den
Fall vortragen und fand ihn schlimm; denn obschon die Gesetze
der Witwe ausdrücklieh rechb gaben, so war es doch nicht leieht,
einen Fürsten, der gewohnt war, seinen Willen für vollkommene
Gerechtigkeit zu halten, zur freiwilligen Erfüllung eines ver—
alteten Gesetzes zu bewegen. Was tat also der Kadi? Er sattelte
einen Esel, hing ihm einen groben Saek über den Hals und ritt
unverzüglich nach den Gärten des Palastes, wo der Kalif sich
eben in dem schönen Pavillon befand, den er auf dem Erbteil
der Witwe erbaut hatte.
Die Ankunft des Kadi mit seinem Esel und Sacke seszte ihn
in Verwunderung, und noch mehr erstaunte er, als Ibn Beschir
sieh ihm zu Fühen warf und also sagte: „Erlaube mir, Herr,
daB ieh diesen Saek mit Erde von diesem Boden füllel‘ Hakkam
gab es zu. Als der Sack voll war, bat Ibn Beschir den Kalifen,
mn den Sack auf den Esel heben zu helfen. Hakkam fand dies
Verlangen noeh sonderbarer als alles Vorige; um aber zu sehen,
was der Mann vorhabe, griff er mit an. Allein der Sack war nicht
zu bewegen, und der Kalif sprach: „Die Burde ist zu sehwer,
Kadi, sie ist zu schwer.“
Herr,“ antwortete Ibn Beschir mit einer edlen Dreistigkeit,
„du findest diese Bürde zu schwer, und sie enthält doech nur einen
Rleinen Teil der Erde, die du ungerechterweise einer armen Witwe
genommen hast. Wie willst du denn das ganze geraubte Land
Tragen können, wenn es der Richter der Welt am letzten Gerichts-
tage auf deine Schultern legt?“
Der Kalif war betroffen. Er lobte die Herzhaftigkeit und
Klugheit des Kadi und gab der Witwe das Land mit allen Ge—
bauden. die er darauf hatte anlegen lassen, wieder.
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