74
1
28. Waldlilie im 5chnee.
Der Verthold ist ein Milderer geworden. Vas holzen wirft viel zu
wenig ab für eine Stube voll von Kindern. Für das kranke Meid eine
kräftige Luppe, für die Kinder ein Stück Fleisch will er haben und schießt die
Rehe nieder, die ihm des Weges kommen. Dazu tut die Leidenschaft das
ihre, und so ist der Verthold, der vormaleinst als Hirt ein so guter, lustiger
Bursch gewesen, durch Rrmut, Trotz und Liebe zu den Seinigen recht sauber
zum Verbrecher herangewachsen.
Lin trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fensterchen sind mit
Moos vermauert,- draußen fallen frische Flocken auf alten Schnee. Verthold
wartet bei den Kindern und bei der kranken Rga nur noch, bis das älteste
Mädchen, die Lili, mit der Milch heimkehrt, die sie bei einem nachbarlichen
Klausner erbetteln muß. Denn die Ziegen im Hause sind geschlachtet
und verzehrt,- und kommt die Lili nur erst zurück, so will der Verthold
mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Vei solchem Wetter sind die wehe
nicht weit zu suchen. !
Rber es wird dunkel, und die Lili kehrt nicht zurück. Der Schneefall
wird dichter und schwerer, die Nacht bricht herein, und Lili kommt nicht.
Die Kinder schreien schon nach der Milch, den Vater verlangt schon nach
dem wild,- die Mutter richtet sich auf in ihrem Vette. ,,Lili!" ruft sie,
„Kind, wo trottest denn herum im stockfinstern Wald? Geh heim!"
wie kann die schwache Stimme der Kranken durch den wüsten Schnee¬
sturm das Ghr der Irrenden erreichen?
Je finsterer und stürmischer die Nacht wird, desto tiefer sinkt in
Berthold der hang zum wildern, und desto höher steigt die Rngst um seine
Waldlilie. Ls ist ein schwaches zwölfjähriges Mädchen,- es kennt zwar
die waldsteige und Rbgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den
Rbgrund die Finsternis.
Endlich verläßt der Mann das Haus, um sein Kind zu suchen. Stunden¬
lang irrt und ruft er in der sturmbewegten Wildnis,- der wind bläst ihm
Rügen und Mund voll Schnee,- seine ganze Kraft muß er anstrengen, um
wieder zurück zur Hütte gelangen zu können.
Und nun vergehen zwei Tage,- der Schneefall hält an, die Hütte des
Verthold wird fast verschneit. Sie trösten sich überlaut, die Lili werde
wohl bei dem Klausner sein. Diese Hoffnung wird zunichte am dritten
Tag, als der Verthold nach einem stundenlangen Ringen im verschneiten
Gelände die Klause vermag zu erreichen. Lili sei vor drei Tagen wohl
bei dem Klausner gewesen und habe sich dann beizeiten mit dem Milchtopf
auf den Heimweg gemacht.
I