Full text: [Teil 4 = (5. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 4 = (5. Schuljahr), [Schülerband])

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28. Waldlilie im 5chnee. 
Der Verthold ist ein Milderer geworden. Vas holzen wirft viel zu 
wenig ab für eine Stube voll von Kindern. Für das kranke Meid eine 
kräftige Luppe, für die Kinder ein Stück Fleisch will er haben und schießt die 
Rehe nieder, die ihm des Weges kommen. Dazu tut die Leidenschaft das 
ihre, und so ist der Verthold, der vormaleinst als Hirt ein so guter, lustiger 
Bursch gewesen, durch Rrmut, Trotz und Liebe zu den Seinigen recht sauber 
zum Verbrecher herangewachsen. 
Lin trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fensterchen sind mit 
Moos vermauert,- draußen fallen frische Flocken auf alten Schnee. Verthold 
wartet bei den Kindern und bei der kranken Rga nur noch, bis das älteste 
Mädchen, die Lili, mit der Milch heimkehrt, die sie bei einem nachbarlichen 
Klausner erbetteln muß. Denn die Ziegen im Hause sind geschlachtet 
und verzehrt,- und kommt die Lili nur erst zurück, so will der Verthold 
mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Vei solchem Wetter sind die wehe 
nicht weit zu suchen. ! 
Rber es wird dunkel, und die Lili kehrt nicht zurück. Der Schneefall 
wird dichter und schwerer, die Nacht bricht herein, und Lili kommt nicht. 
Die Kinder schreien schon nach der Milch, den Vater verlangt schon nach 
dem wild,- die Mutter richtet sich auf in ihrem Vette. ,,Lili!" ruft sie, 
„Kind, wo trottest denn herum im stockfinstern Wald? Geh heim!" 
wie kann die schwache Stimme der Kranken durch den wüsten Schnee¬ 
sturm das Ghr der Irrenden erreichen? 
Je finsterer und stürmischer die Nacht wird, desto tiefer sinkt in 
Berthold der hang zum wildern, und desto höher steigt die Rngst um seine 
Waldlilie. Ls ist ein schwaches zwölfjähriges Mädchen,- es kennt zwar 
die waldsteige und Rbgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den 
Rbgrund die Finsternis. 
Endlich verläßt der Mann das Haus, um sein Kind zu suchen. Stunden¬ 
lang irrt und ruft er in der sturmbewegten Wildnis,- der wind bläst ihm 
Rügen und Mund voll Schnee,- seine ganze Kraft muß er anstrengen, um 
wieder zurück zur Hütte gelangen zu können. 
Und nun vergehen zwei Tage,- der Schneefall hält an, die Hütte des 
Verthold wird fast verschneit. Sie trösten sich überlaut, die Lili werde 
wohl bei dem Klausner sein. Diese Hoffnung wird zunichte am dritten 
Tag, als der Verthold nach einem stundenlangen Ringen im verschneiten 
Gelände die Klause vermag zu erreichen. Lili sei vor drei Tagen wohl 
bei dem Klausner gewesen und habe sich dann beizeiten mit dem Milchtopf 
auf den Heimweg gemacht. 
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