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Naturbilder.
den hundertstimmigen Glocken und Schellen, singenden Kindern und
jodelnden Sennen strichweise verhüllt werden. Der Frühling ist die laute,
die tönende, tausendstimmige Naturperiode.
Der Kampf mit Nebel und Nacht beginnt,
Das Leben ringt sich frei
Und Kette um Kette in Tau zerrinnt
Der Wintersklaverei.
Schon hör’ ich den fröhlichen Herdereihn
Erklingen im Morgenstrahl,
Die Brunnen der Berge jauchzen drein
Und springen ins grüne Tal.
Aber die stumme Welt der Pflanzen ergänzt bald in ihrer Weise
mit stillem Blätter- und Blütenschmuck das Schauspiel der erwachten
und beweglichen Lebensmächte, die von Tag zu Tag gewaltiger werden.
Haben Föhn, Sonne und Regen die Schneedecke weggeleckt, so stehen
noch überall die Spuren des Todes und Schlafes. Die Wiesen und
Weiden sind fahlgelb oder rotbraun. Von den Quellen und dem Tale
her überzieht sie aber in wenigen Tagen ein lichtes, helles Grün, das
immer klarer und tiefer wird. Die Haselbüsche streuen ihren Gold¬
regen aus, die gelben Huflattichblüten überziehen die feuchten Lehm-
und Sandhalden mit leuchtenden Decken, der Spitzahorn zeigt das erste
Baumgrün und achtzehn Tage nach dem ersten Bodengrün blühen in
den mildern Bergwiesen schon die Kirschbäume und fangen die Buch¬
wälder an langsam vom Tal auf sich zu belauben. Fast drei Wochen
hat der Frühling von dem untersten Kirschbaum, den er mit Blüten
schmückt, bis zum obersten hinanzusteigen; und so wird es über Mitte
Mai, bis er an der obern Grenze (1300 m ü. M.) anlangt. Noch später
gelingt ihm die Vollendung der aufsteigenden Belaubung des Buchwaldes,
während im Herbst die von oben anfangende Vergilbung der Wälder sich
weit rascher nach unten vollzieht.
Friedrich von Tschudi, Das Tierleben der Alpenwelt, 11. Ausl. Leipzig
1890, S. 23 f.
i09. Der Föhn1).
Die atmosphärischen Erscheinungen, welche den Föhn unserer
Alpen begleiten, sind sehr hübsch. Am südlichen Horizonte zeigt sich
leichtes, sehr buntes Schleiergewölke, das sich an die Bergspitzen setzt.
Die Sonne geht am stark geröteten Himmel bleich und glanzlos unter.
Noch lange glühen die feinen, nordwärts gebogenen Streifenwolken in
0 Früher suchten viele Forscher die Quellen der heißen Süd- und Süd Westwinde
(Föhn) in den brennenden Sandwüsten der Sahara. Heutzutage nimmt man an, daß der
Föhn von lokaler Natur ist und als Erzeuger desselben unsere Alpen angesehen werden
müssen.