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Naturbilder.
grüßt. Im ganzen Berggebiet bewirkt er enorme Schnee- und Eis¬
schmelzungen und verändert dadurch mit einem Schlage das Bild der
Landschaft. Im Grindelwaldtale1) schmelzt der Föhn oft in zwölf Stunden
eine Schneedecke von 3/4 m Dicke weg. Er ist der rechte Lenzbote
und wirkt in vierundzwanzig Stunden so viel wie die Sonne in vierzehn
Tagen, indem auch die alte, zähe Schneeschicht, welche die Sonne lange
vergeblich beleckt, ihm nicht widersteht. Ja er ist in vielen schattigen
Hochtälern geradezu die Bedingung des Frühlings, wie er an manchen
Orten der Ebene im Herbste die Zeitigung der Traube bedingt. Würde
er nicht von Zeit zu Zeit die zeugende Wärme bringen und die neuver¬
suchten Schneeansätze wegfegen, so gäbe es in manchem Hochtale
keinen Sommer und kein Leben, sondern wahrscheinlich nur stets
wachsende Eisfelder. In Uri, wo er sehr häufig und anhaltend weht,
verdanken es ihm die Einwohner, daß die Gletscher so wenig tief in
die Bergtäler herunterreichen und die Alpen früher befahren werden
können als in den meisten gleich hohen Geländen. Dabei ist der Föhn
zum großen Glücke der Menschen und Felder ein vorsichtiger Schnee¬
schmelzer und schützt dadurch, daß er durch seine Trockenheit und
Wärme eine massenhafte Verdunstung der Wasserteile unterhält,
wenigstens teilweise die Niederungen vor gefährlichen Überflutungen
der Bergwasser. Dagegen trocknet und schwärzt er die Pistille2) der
Obstblüten und vertilgt die Hoffnung auf eine Ernte, sengt das Land,
verbrennt und schwärzt sogar die Nesselstauden, als ob ein Feuer über
sie hingefahren wäre. Auch die Buche und das Heidekorn gedeihen an
Abhängen nicht, wo der Föhn häufig anstreicht.
Friedrich von Tschudi, Das Tierleben der Alpenwelt, 11. Ausl. Leipzig
1890, S. 191
110. Die Katze auf der Jagd.
Aller List Anfang ist das „Trau, schau, wem!“ Vorsichtig, mi߬
trauisch, argwöhnisch ist die Katze gegen alles, auch gegen den Men¬
schen. Auf eine gewisse Entfernung läßt sie wohl den Fremden heran¬
kommen; aber dann mit einem Sprung ist sie auf und davon, blitzschnell
und spurlos davon wie ein Vogel. Vor Hunden flieht sie, sobald sie
ihrer ansichtig wird, und an Schlupfwinkeln fehlt es ihr nie. In höchster
Not springt sie auf einen Baum, schaut wohlgemut aus ihrer Warte und
läßt den Kläffer unten austoben. Sie kennt alle Gelegenheit ihres Auf¬
enthaltes, zumal in der Küche. Gibt es da etwas zu naschen, ein ge¬
backenes Fischchen oder vom Milchhafen die Sahne, so wartet sie gewiß
immer den günstigen Augenblick ab, und hat sie ihr Gelüst gestillt, so
liegt sie in der nächsten Minute mit schlafenden Augen unter dem Ofen.
*) Im Berner Oberland gelegen. 2) Pistille — Stempel.