Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

Odysseus. — 
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stand er von seinem Lager auf, seinen Platz dem Jüngling einzuräumen, 
aber der bescheidene Telemach hielt ihn zurück und sprach: „Bleib sitzen, 
Fremdling, ich finde wohl sonst noch ein Plätzchen. Eumäos wird mich 
schon unterbringen.“ Odysseus setzte sich wieder, und der Sauhirt machte 
sogleich einen neuen Sitz von Reisig und Ziegenfellen zurecht, welchen 
Telemach einnahm. Dann holte er die Überreste der letzten Mahlzeit 
herbei und reichte dem Königssohne zu essen, mischte auch Wein für seine 
Gäste und bot freigebig dar, was er hatte. Während des Mahles fragte 
der Jüngling den Sauhirten, was er da für einen Gast bekommen habe 
und wie derselbe hier angelangt sei. „Er sagt, er stamme aus Kreta, 
habe viele Reisen gemacht und auf denselben viel Ungemach erduldet; 
min harrt er auf weitere Entsendung; ich übergebe ihn dir, zumal ich 
ihn längst auf deine Freundlichkeit vertröstete,“ erwiderte der Hirt. 
Dann entfernte er sich, vom Königssohn zu seiner Mutter mit der Nach— 
richt abgeschickt, daß er glücklich von Pylos zurückgekehrt sei. 
Noch sah ihm Odysseus nach, als ihm durch die halbgeöffnete Pforte 
die Gestalt eines schönen, schlanken Mädchens erschien, die ihm heraus— 
zukommen winkte. Die Hunde krochen schweigend in die Winkel; 
Telemach aber gewahrte die Erscheinung nicht. Odysseus dagegen ahnte 
sogleich die Nähe seiner göttlichen Freundin, ging unter einem Vorwande 
zur Tür hinaus, wurde von ihr aufgefordert, sich nun seinem Sohne 
zu entdecken, und sogleich in den edlen Odysseus verwandelt. Mit 
königlicher Würde trat er in die Hütte, der kurz zuvor in Lumpen 
hinausgegangen war. Telemach staunte und sah ihn zweifelhaft, ja 
bange an; er glaubte, ihn versuche ein Gott. „Fremdling,“ redete er 
ihn mit ungewisser Stimme an, „wie erscheinst du mir jeßt so anders 
in Kleidung und Gestalt! Ha, ich ahne es, mir naht ein Gott. O schone 
unser, heiliges Wesen, und sei uns gnädig! Gern wollen wir dir Ge— 
schenke und Opfer bringen!“ „Sohn!“ rief Odysseus mit funkelnden 
Augen und schloß ihn feurig in die Arme, „nein, ich bin kein Gott; 
wie wäre ich Unsterblichen ähnlich? Dein Vater bin ich, um den du so 
lange trauerst, um den du so viele Schmach von den trotzigen Männern 
ertragen hast! Ich bin Odysseus!“ Jetzt rannen die lange verhaltenen 
Tränen und mischten sich mit unaufhörlichen Küssen. Ja, in diesem 
Augenblicke war Odysseus ein Gott; denn des Wiedersehens himmlische 
Freude, des Wiedersehens Freude in dem lange ersehnten Vaterlande 
durchschauerte alle seine Glieder. Vergessen waren in diesem Augenblicke 
der Umarmung aller Kummer der vergangenen Jahre, alle Irrsale und 
Schiffbrüche, aller Schmerz der oft getäuschten Hoffnung; verschwunden 
auch war die Besorgnis vor den noch zu bestehenden Wagnissen. 
11. Odysseus und Penelope. 
Jahrelang hatten die übermütigen Freier die edle Penelope durch 
unerhörte Frechheit gekränkt und das Gut des Odysseus verpraßt. Nun
	        
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