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Erzählungen.
4. Der kluge Sultan.
Nach J. P. Hebel, Schatzkästlein.
Als der Großsultan der Türken an einem Freitag eben in die Moschee
gehen wollte, trat zu ihm ein armer Mann von seinen Untertanen mit
schmutzigem Bart, zerfetztem Rock und durchlöcherten Pantoffeln, schlug ehr⸗
erbietig und kreuzweise die Arme übereinanden und sagte: „Glaubst du auch,
großmächtiger Sultan, was der heilige Prophet sagt?“ Der Sultan, ein
gütiger Herr, erwiderte: „Ja, ich glaube, was der Prophet sagt.“ Der
arme Mann fuhr fort: „Der Prophet sagt im Koran: Alle Muselmänner
sind Brüder. Drum, Herr Bruder, sei so gut und teile mit mir das Erbe⸗
Dazu lächelte der Herrscher und dachte bei sich: das ist eine neue Art, ein
Almosen zu erbetteln, und gibt ihm einen Löwentalenn Der Türke beschaut
das Geldstück lange bald auf der einen, bald auf der anderen Seite. Am
Ende schüttelt er den Kopf und sagt: „Herr Bruder, wie komme ich zu
einem schwäbischen Löwentaler, da du doch mehr Silber und Gold haft,
als hundert Maulesel tragen können, und menen Kindern daheim werden vor
Hunger die Nägel blau, und mir wird nächstens der Mund ganz zusammen⸗
wachsen. Heißt das geteilt mit einem Bruderz Da gütige Sultan aber
hob warnend den Finger in die Höhe und sagte: Herr Brude, sei zu⸗
frieden und sage ja niemand, wieviel ich dir gegeben habe; denn unsere
Familie ist groß, und wenn unsere anderen Brüder alle auch ihr Erbteil
von mir verlangen, so wird's nicht reichen, und du mußt noch hero isgeben.“
Das begriff der Herr Bruder, ging zum Bäckermeister Abu Tlengi
und kaufte ein Laiblein Brot für seine Kinden Dar Sultan aber begab
sich in die Moschee und verrichtete sein Gebet.
5. Suwarow.
J. P. Hebel, Schatzkästlein.
Der Mensch muß Herrschaft über sich selber ausüben können, sonst
ist er kein braver und achtungswürdiger Mensch, und was er einmal als
recht erkannt, das muß er auch tun, aber nicht nur einmal, sondern immer.
Der russische General Suwarow, den die Tuͤrken und Polen, die
Italiener und die Schweizer wohl kannten, hielt ein scharfes und strenges
Kommando. Aber was das vornehmste war, er siellte sich unter sein
eigenes Kommando, als wenn er ein anderer und nicht der Suwarow
selber wäre. Sehr oft mußten ihm seine Adjutanten dies und jenes in
seinem eigenen Namen befehlen, was er alsdann pünktlich besorgte.
Einmal war er sehr aufgebracht über einen Soldaten, der im Dienste
etwas versehen hatte, und fing schon an, ihn zu prügeln Da faßte ein
Adjutant das Herz, dachte, er wolle dem General und dem Soldaten
einen guten Dienst erweisen, eilte herbei und sagte: „Der General