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Gras nieder. Der Fleißige aber bedachte sich nicht lang, lies ihr nach, ergriff
sie an dem Zipsel ihres weiten Mantels und sprach: „Wer bist du?" „Das
Glück," antwortete die Frau, „und jenes Schloß ist mein. Kommt mir nach!
und seid ihr vor Mitternacht da, so will ich euch freundlich aufnehmen. Kommt
ihr aber nur eine Sekunde nach Mitternacht, so ist für euch mein Haus ver¬
schlossen!" Bei diesen Worten entzog sie ihren Mantel der Hand des Gesellen
und rollte so rasch dahin, daß sie bald seinen Blicken entschwunden war.
Der Gesell kehrte zu seinem Kameraden zurück, erzählte ihm, was ihm
begegnet, und sagte: „Ich geh' hin. Kommst du mit?" Der aber sprach: „Bist
du toll? Ja, wenn ein Pferd hier wäre und mich hinbrächte!" „Ade!" rief
der andere und trat seine Reise an. Der Faule dachte: „Lauf du nur immer¬
zu! der Zufall ist schon manchem im Schlafe günstig gewesen, vielleicht ist er's
mir heute auch einmal." Damit legte er sich aus den Bauch und blinzelte
behaglich, aber doch etwas sehnsüchtig nach dein flimmernden Schlosse hin.
Plötzlich fühlte er um seine Ohren etwas Warmes schnuppern, und als er sich
langsam umwandte, siehe, da stand ein hübsches munteres Pferdchen da, das
war glänzend weiß, schüttelte die Mähnen und wieherte lustig in die frische
Morgenluft hinaus. „Hab' ich's nicht gleich gesagt!" rief der Geselle, „wer
nur dem Zufall vertraut! Komm her, mein Tier, wir wollen gute Freunde
sein!" — Mit diesen Worten hob er sich ruhig in den Sattel, und wie der
Wind flog das Tier mit ihm auf und davon. Bald holte er seinen Kameraden
ein. „Viele Grüße an Schusters Rappen von meinem Schimmel!" rief er ihm
im Vorbeijagen zu. Der aber ließ sich nicht stören, sondern schritt rüstig und
sicher seine Straße vor sich hin.
Ans einer buschigen Anhöhe niachte der Schimmel mit seinem Reiter
um Mittag plötzlich Halt. „Recht so," sprach dieser, „du bist ein ganz gescheites
Tier. Eile mit Weile, das ist die wahre Weisheit. Das Schloß da läuft uns
nicht fort, aber der Appetit, wenn man sich überhungert." Nun stieg er vom
Pferde, suchte einen weichen, schattigen Abhang neben einen: bequemen Stein,
ließ sich ins Moos nieder, stemnlle die Beine gegen einen Baumstamm und
hielt sein Mittagbrot, denn gliicklicherweise befand sich Brot und Wurst in
seinen Taschen und ein guter Schluck in seiner Korbflasche. Und als der
Magen gefüllt war und ihn der Schlaf überkam, folgte er dieser süßen Lockung,
streckte alle Viere von sich und schlief ruhig ein. Das war ein Schlaf! So
schöne Träume hatte er noch nie gehabt. Ihm träumte, er sei schon im Schlosse,
läge auf seidenen Polstern, und was er nur wünsche, käme ihm von allen
Seiten zugeflogen, ohne daß er auch nur den kleinsten Finger zu rühren
brauche. Zuletzt war es ihm, als würde ein großes Feuerwerk abgebrannt
und die schönste Musik spielte dazu das Lied: „Frischer Mut, leichtes Blut
ist des rüst'gen Wandrers Gut." — Da wachte er auf. Er rieb sich die
Augen. Nun sah er, daß die Sonne hinter dem Schlosse soeben unterging
und ihm noch den allerletzten Strahl in die Augen warf. Aus dem Tale vor
ihn: aber schallte die Stimme des Kameraden herauf, der sang das Lied,
Lehmann, Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten. II. Teil. ?