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132. Lorelei.
Nach L. Be ch stein. Deutsches Sagenbuch. 1853. (Umgearbeitet und ergänzt.)
Wo das Stromtal des Rheins unterhalb Kaub am engsten sich zusammen¬
drängt, starren schroff zu beiden Seiten echoreiche Felsenwände von Schiefer¬
gestein schwarz und unheimlich empor. Schneller schießt dort die Stromflut,
lauter brausen die Wogen, Prallen ab am Felsen und bilden schäumende
Wirbel. Der eine der Felsen, welcher sich zwischen St. Goar und Oberwesel
in einer Höhe von 130 m senkrecht über dem Rhein erhebt und früher der
Schiffahrt sehr gefährlich war, heißt Lorelei oder Lurlei. Der Name
bedeutet wohl „Lauerfelsen", einen Felsen, welcher auf den Widerhall horcht.
Im Rheine unter der Lorelei liegt der Sage nach der berühmte
Nibelungenhort, der nach Siegfrieds Tode von Hagen hier versenkt ward.
In den Felsen aber ist eine schöne Jungfrau gebannt. Es wird erzählt, sie
sei ein Fischermädchen gewesen und von ihrem ungetreuen Bräutigam, den
sie sehr liebte, verlassen worden. Aus Gram hierüber habe sie sich in den
Rhein gestürzt, wo sie zur Wassernixe ward. In den Felsen gebannt, erscheint
sie oft den Schiffern, strählt mit goldnem Kamme ihr langes, flachsenes
Haar und singt dazu ein klagendes und süß betörendes Lied. Mancher, der
sich davon locken ließ und den Felsen erklimmen wollte, fand seinen Tod in
den Wellenwirbeln. Denn wer sie sieht, wer ihr Lied hört, dem wird das Herz
aus dem Busen gezogen. Hoch oben auf ihres Felsens höchster Spitze steht
sie, in weißem Kleide, mit fliegendem Schleier, mit wehendem Haar, mit
winkenden Armen. Keiner aber konunt ihr nahe. Wenn auch einer den
Felsgipfel erstiege, sie weicht vor ihm, sie schwebt zurück, sie lockt ihn durch
ihre zaubervolle Schönheit bis an des Abgrunds jähen Rand. Er sieht nur
sie, er glaubt sie vor sich auf festem Boden, schreitet vor und stürzt in die
Tiefe.
133. Der Rattenfänger von Hameln.
Von den Brüdern Grimm. Deutsche Sagen. 1816.
Inr Jahre 1284 ließ sich zu Hameln an der Weser ein wunderlicher
Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem Tuch an und gab sich
für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die
Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit
ihm einig und versicherten ihni einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger
zog nun ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen alsbald die Ratten und
Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum.
Darauf ging er hinaus, und der ganze Haufen folgte ihm, und so führte er
sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, woraus
ihm alle Tiere folgten und hineinstürzend ertranken.
Nachdem die Bürger von ihrer Plage befreit waren, reute sie der ver¬
sprochene Lohnt und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten,
so daß er zornig und erbittert wegging. Aber er erschien bald wieder, jetzt