Full text: Klasse 5 (sechstes Schuljahr) (Teil 5, [Schülerband])

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Wahrsagerinnen suchten die Kinderstube des Neugeborenen auf und 
wurden, wenn ihre Deutungen aus den Träumen der Mutter oder aus 
sonstigen zufälligen Ereignissen glückverheißend waren, mit reichlichem 
Lohne entlassen. Nicht weniger war aber das Kind auch den Gefahren 
ausgesetzt, die ihm böse Mächte bereiteten; rief ein böswilliger Feind 
die Hekate oder die Keren an das Bett des Kindes, so stand ihm der Tod 
nahe bevor. Daher begreifen wir, daß die besorgte Mutter, um die 
unzähligen Gefahren, die auf das ahnungslose Kind lauerten, abzu¬ 
wehren, alle erdenklichen Mittel ersann, zu denen auch die genannten 
Zaubermittel gehörten. Den römischen Kindern hängte man die Bulla 
d. i. eine runde oder herzförmige, goldene Kapsel um, in der ein Amu¬ 
lett verschlossen war. 
Während dieser beständigen Sorgen der ängstlichen Mutter schlum¬ 
merte das Kind in einem kleinen Bette, einem aus Weiden geflochtenen 
Korbe, oder Mutier und Wärterin trugen die Kleinen, um sie zu be¬ 
ruhigen und einzuschläfern, schaukelnd und Wiegenlieder singend auf 
den Armen umher. 
Wer kennt nicht die brave Eurykleia, die Pflegerin des kleinen 
Odysseus? Die Wärterin war die Herrin der griechischen Kinderstube, 
sie hatte die Fürsorge für die Kleinen, sie nannte ihre Pflegebefohlenen 
mit den wunderbarsten Kosenamen. 
Nicht so ausschließlich wie der griechische Vater ließ der Römer 
seinen Sohn in der Kammer der gekauften Sklavin auferziehen, sondern 
am Herzen und auf dem Schoße der Mutter, die über das Haus 
wachte und ihren Kindern lebte. Unter den Händen der Mutter und 
Wärterin blieben Knaben und Mädchen bis zum sechsten Jahre ver¬ 
eint, und die Erziehung beider war nicht getrennt. Früh hörten sie in 
der Kinderstube aus dem Munde der unermüdlichen Wärterin Märchen 
und Spukgeschichten, die sprichwörtlich gewordenen Ammenmärchen und 
Altweibergeschichten, deren wohltätigen Einfluß man nicht wird leugnen 
können, vorausgesetzt, daß dieselben nicht durch Übertreibung der Er¬ 
zählerin ein Grauen erregen und das zarte Gemüt und die Phantasie 
der Kinder auf die Dauer zu zerstören drohen. 
Es ist natürlich, daß auch den Kindern allerhand Spielzeug, und 
darunter befanden sich oft kostbare Kleinigkeiten, zur Beschäftigung ge¬ 
geben wurde, und daß Ammen und Wärterinnen neben der Mutter 
am kindlichen Spiel sich beteiligten. Wo es an fertigen Spielsachen
	        
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