Prosa.
I. Märchen und Erzählungen.
47. Frau Holle.
Mar Geißler
1. Taumännlein.
Frühmorgens, ehe die Sonne erwacht, ist die Welt wundersam. Aber
ein Langschläfer, der sich, wenn ihm der Tag ins Bett scheint, auf das
andere Ohr legt und meint, es sei doch nirgends schöner als in den Federn,
der bekommt nichts von der Herrlichkeit des jungen Tages zu sehen. Wenn
die Sonne aufsteht, da ist in den Wäldern und auf den Wiesen noch ein
letzter Schimmer vom blanken Mondlicht. Und jedes Blatt am Baume
trägt ein Tröpflein Tau, und jedes Rädlein am Tannenbaum hat ein
blitzendes Perlchen, schöner wie der König in seiner Krone; und jede
Blume ist ein Becherlein — die eine aus Gold, die andere aus Silber, die
dritte aus Himmelblau, die vierte aus Korallen und so fort bis zu der
letzten. Und in jedem Becherlein ist ein zitternder Tropfen Tau.
Ei, wer hat denn den hineingegossen?
Das ist das Taumännlein gewesen. Das steigt mit einem langen
Bart und einem zackigen Krönlein auf der Stirn, in dem Tropfen blitzen
wie die Edelsteine, durchs Gras und vergißt keine Blume. In der Hand
aber hält es ein fein geschwungen Krüglein, schlank und aus hellem Silber.
Daraus gießt es in jeden Blütenbecher der Aue ein wenig. Und ein
anderes steigt am Waldrand hin, ein drittes am Korn. Die haben beide