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ihn für den glücklichsten Menschen erklären von allen, die er je gesehen.
Aber Solon sprach: „Herr, der glücklichste Mann, den ich je gesehen, ist
Tellus von Athen." Den König nahm das wunder, und er fragte voll
Eifers: „Und warum hältst du den Tellus für den glücklichsten Menschen?"
Solon antwortete: „Tellus, ein Bürger von Athen, lebte zu einer Zeit,
wo feine Vaterstadt im blühendsten Zustande war, er hatte edle und
vortreffliche Söhne, die alle wieder Kinder hatten, und die waren alle
am Leben. Und nachdem er so, nach menschlichem Maße, ein glückliches
Leben geführt, ward ihm auch ein glänzendes Ende. Denn als die
Athener wider ihre Nachbarn, die Megarenser, in den Krieg gingen, da
zog er mit, und durch feine Tapferkeit wurde der Feind besiegt, und er
selber starb siegend den schönsten Tod. Seine Mitbürger bestatteten ihn
auf öffentliche Kosten an der Stelle, wo er gefallen, und erwiesen ihm
große Ehre."
Als der König das hörte, ward er eifriger, und er fragte, wer
denn der zweite nach jenem fei; denn er glaubte doch wenigstens die
zweite Stelle zu erhalten. Aber Solon antwortete: „Nach Tellus halte
ich für die Glücklichsten die beiden Brüder Kleobis und Biton, zwei
Jünglinge aus Argos. Diese besaßen so viel, als sie zum Leben be¬
durften, und hatten eine große Leibesstärke, so daß sie in einem Wett¬
kampf den Ehrenpreis davontrugen. Und dann erzählt man von ihnen
folgendes: Die Argiver feierten ein Fest ihrer Göttin Hera, deren
Tempel 45 Stadien von der Stadt entfernt liegt. An diesem Feste
mußte die Mutter der Jünglinge, welche' Priesterin der Göttin war,
durchaus nach dem Tempel fahren; aber die Rinder, welche den Wagen
ziehen sollten, kamen nicht zu rechter Zeit vom Felde. Da nun keine
Zeit zu verlieren war, so spannten sich die beiden Jünglinge selbst an
das Joch und zogen den Wagen nach dem Tempel. Auf dem Wagen
faß die Mutter, und das ganze Volk begleitete sie und pries sie glücklich,
daß sie solche Söhne hatte, und lobte die Jünglinge wegen ihrer kind¬
lichen Liebe. Als sie an dem Ziele angekonnnen waren, trat die Mutter,
das Herz voll Freude, vor das Bild der Göttin und betete, daß sie
dem Kleobis und Biton, ihren Kindern, welche ihr so große Ehre erwiesen
hatten, das Beste geben möge, was dem Menschen zuteil werden könne.
Nach diesem Gebete nun und nachdem man geopfert und das Opfermahl
gefeiert, legten sich die Jünglinge, ermüdet von der großen Anstrengung,
in dem Tempel zum Schlafe nieder, und sie standen nimmer wieder auf,
sondern das war ihres Lebens Ende. Die Argiver aber errichteten
ihnen Bildsäulen, weil sie so gute Menschen gewesen."
Nun aber ward Krösus unwillig und sprach: „Mein Freund von
Athen, gilt dir denn mein Glück gar nichts? Setzest du mich wirklich
nicht einmal diesen geringen Bürgern gleich?" Hierauf antwortete Solon:
„O König, das Leben der Menschen ist voll Wandel und Wechsel; in