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er diese um einen Becher Wein; und als sie ihm denselben
reichte, faßte er die Jungfrau, die errötend da stand, bei der
Hand und sprach: „Schon lange thut's mir weh, daß wir hier
Gefangene sind, und ein süßes Sehnen nach den lieben Hei¬
matsauen hat mir schon längst die Brust gefüllt. Auch wäre
ich schon gern entflohen; denn die Gelegenheit war mir öfter
günstig; doch ohne dich möchte ich nicht fliehen. Bliebest du
hier, so würde ich auch in der Heimat nur Schmerz und Kum¬
mer haben. Nun sprich, willst du mit mir entfliehen?" Hilde¬
gund aber wußte bei dieser Rede vor lauter Freude nicht, ob
sie weinen oder lachen sollte, und mit rührender Stimme sprach
sie: „Gewiß, das will ich! Wie freue ich mich, daß du gesagt
hast, was ich schon seit vielen Jahren verschlossen im Busen
trug und dir nicht gestehen durfte. Gewiß, wir wollen fliehen;
möge es nun unser Glück oder Tod sein." Darauf verabredeten
sie die Rüstung zur Flucht.
Als alles vorbereitet war, lud Walter den König und
sein Gefolge zu einem üppigen Gelage und ließ die Schenken
ihres Amtes so tüchtig warten, daß endlich der König und
sämtliche Gäste, vom Uebermaße berauscht, schnarchend im Saale
umherlagen.
Nun schlich Walter davon, zog aus dem Stalle das
kräftigste Streitroß, belud es mit Gold und Edelsteinen, die
er in zwei Kisten wohl verwahrt hielt, und floh mit der Ge¬
liebten von dannen. Die Jungfrau führte das Roß und hielt
eine Angelgerte im Arm; der Held schritt kampfgerüstet nebenher.
Als der König Etzel am Morgen die Flucht der Geliebten
erfuhr, zerriß er im Zorne sein prächtiges Gewand, ver¬
schmähte Speise und Trank, und verhieß dem, der ihm Walter
gefesselt zurückbringe, die kostbarsten Schätze seiner Hofburg;
doch keiner getraute sich, den reichen Lohn zu verdienen.
2. Flucht und Ankunft am Rhein.
Indessen waren die beiden im Schutze der dunkeln Nacht
vorwärts geeilt; doch als die Morgenröte kam, bogen sie von
der Heerstraße ab und wendeten sich dem Schatten der Waldes¬
einsamkeit zu, weil sie noch immer die Verfolger fürchteten.
Der Jungfrau zumal pochte das Herz vor Angst und Sorge,
wenn nur ein Lüftchen durch die Blätter säuselte oder ein Vög-
lein durch die Zweige huschte. Die Nächte benutzten die Flücht¬
linge zur Flucht, während des Tages suchten sie dichte Gebüsche