112 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, b) Griechische Sagen.
wir aßen und tranken, und der alte Mut kehrte wieder. Ein süßer
Schlaf erquickte uns am Gestade, und als die Morgenröte uns weckte,
beschlossen wir, auf Kundschaft auszugehen, ob vielleicht gastfreundliche
Menschen die Insel bewohnten.
Ringsum war nichts zu sehen als öde Steppen und düsterschwarze
Waldung. Aber mitten aus dem Dickicht wölkte ein starker Rauch sich
empor. Dahin müssen wir gehen, rief ich; doch wer geht voran? Die
Gefährten traten alle scheu zurück; sie dachten noch mit Schrecken an
den Cyklopen und an die Lästrygonen, und fürchteten hier ein ähn¬
liches Schicksal. Wohlan, sprach ich, teilt euch in zwei Haufen, den
einen will ich anführen, den andern übergebe ich dem Eurylochus.
Nun wollen wir losen. Diejenige Hälfte, deren Anführer das Los
bestimmt, soll die mißliche Wanderung unternehmen. Sie teilten sich
unmutsvoll; auf jeder Seite standen zweiundzwanzig. Eurylochus und
ich warfen zwei Lose in einen Helm. Der Helm ward geschüttelt, und
sieh, des Eurylochus Los sprang zuerst heraus. Er machte sich darauf
mit den Seinigen zögernd auf den Weg. Die armen Menschen weinten
bitterlich, als sie von uns andern am Ufer Abschied nahmen; ich suchte
sie wohl zu trösten, allein ich bedurfte selbst des Trostes, und mir
ahnte nichts Gutes.
Der Rauch, den wir gesehen hatten, war aus der stattlichen
Wohnung der Circe aufgestiegen, einer heillosen Zauberin, gewandt in
allerlei bösen Künsten, womit sie den Menschen schaden konnte. Sie
besaß das Geheimnis Kräuter zu kochen, deren Genuß den Menschen
sogleich in eine Tiergestalt verwandelte, welche ihr gerade beliebte, und
schon wandelte in dem Parke, der ihre Wohnung umgab, eine ganze
Menagerie von ausländischen Tieren — lauter Unglückliche, die ein
Sturm oder Schiffbruch an die Küste verschlagen hatte und denen statt
freundlicher Aufnahme ein trauriges Los zu teil geworden war. Aber
der verständige Menschensinn war ihnen nicht genommen worden; daher
schlichen alle die Löwen und Wölfe ganz friedlich umher, und, nur von
außen schrecklich anzusehen, härmten sie sich innen die fühlende Seele
in schwerem Kummer ab. Das wußten meine Gefährten nicht und
staunten daher die sanftmütigen Tiere an, die gleich freundlich wedeln¬
den Hunden auf sie zukamen, als wollten sie dieselben bitten, sich von
diesem gefährlichen Orte zu entfernen. Ach, daß sie doch die stumme
Bitte verstanden hätten! Aber so gingen sie unwissend ihrem Ver¬
derben entgegen.
Sie kamen an den Palast, in welchem die Göttin wohnte. Eben
saß sie daheim und webte sich ein köstliches Gewand und sang mit
heller, melodischer Stimme ein fröhliches Liedchen zur Arbeit. Horch!
den herrlichen Gesang! sprach einer der Freunde, laßt uns hineingehen!
Und sie ließen laut rufend ihre Stimme erschallen, damit jemand
herauskäme. Die Göttin, welche drinnen den Ruf der Männer ver¬
nahm, stand von ihrer Arbeit auf und öffnete die Pforte. Tretet
herein, ihr Fremdlinge, sagte sie schmeichelnd, daß ich euch bewirte.
Die Freunde gehorchten und gingen in das Haus; nur der besonnene