RO
der Musik, die fröhlich vom Kurhause herüberschallte. Unter den
Spaziergängern befand sich auch ein Herr, der von allen Seiten
auffallend ehrfurchtsvoll begrüßt wurde und deshalb einsamere
Wege aufsuchte. Da fühlte er sich plötzlich am Rockschoße erfaßt.
Er blickte sich um und sah ein blasses Mädchen, das flehend zu
ihm emporschaute. „Wer schickt dich betteln, mein Kind?“ fragte
der Fremde. „Meine kranke Mutter!“ antwortete die Kleine. „Wo
ist dein Vater?“ „Der ist tot. — Ach, uns hungert so sehr!“ setzte
sie schluchzend hinzu. Der Herr, der schon seine Börse gezogen
hatte, steckte sie wieder ein. „Führe mich zu deiner Mutter, Kleine!“
sagte er und folgte dem Mädchen, das ihn durch mehrere Straßen
und Gäßchen bis zu einem kleinen, baufälligen Hause führte.
2. Sie schritten zwei schmale, alte, knarrende Treppen hinauf.
Dann öffnete die Kleine eine Bodentür, und der Herr blickte nun
in eine halbfinstere Dachkammer; der Verschlag war feucht und
kalt. In der Ecke lag auf ärmlichem Lager eine junge Frau, der
das Elend in den Augen zu lesen war. Sie richtete sich schluchzend
auf, als der Fremde eintrat. „0, Herr Doktor,“ sagte sie, „es ist
nicht recht, daß meine Tochter Sie heimlich gerufen hat. Ich habe
keinen Heller und kann nichts bezahlen.“ Der fremde Herr
winkte einen Diener herbei, der ihm gefolgt war, und sagte ihm
einige Worte, worauf dieser sich sogleich entfernte. „Haben Sie
niemand, der für Sie sorgt?“ fragte er dann. „Ich habe keinen
Verwandten, der sich um mich kümmern könnte, und meine Wirts¬
leute sind selber arm. Mein Mann war Arbeiter. Solange er lebte,
ging es uns gut; seit er tot ist, habe ich Tag und Nacht gearbeitet,
um uns zu ernähren. Dann wurde ich krank, und so kamen wir in
Not und Elend.“ Der Herr gab dem Mädchen Geld und sagte:
„Geh, hole Brot und Wein!“ Schnell eilte das-Kind davon und
kehrte bald voll Freude zurück, ein Brot im Arme und eine Flasche
Wein in der Hand. „Das lohne Ihnen Gott!“ sagte die Frau mit
Tränen in den Augen.
3. Da trat ein Arzt ein, den der Diener herbeigerufen hatte.
Ehrfurchtsvoll verneigte er sich vor dem fremden Herrn. Dieser be¬
nutzte den Augenblick, legte heimlich eine Kassenanweisung auf
den Tisch und verließ unbemerkt das Zimmer. Der Arzt unter¬
suchte den Zustand der Kranken, gab seine Verordnungen und ver¬
sprach, seinen Besuch jeden Tag zu wiederholen. Wegen der Zahlung
dürfe sie sich keine Sorge machen, da der fremde Herr alles bezahlen
werde, auch die Rechnung in der Apotheke. „Wer war der Fremde?“
fragte die Frau, „ich hielt ihn für einen Arzt.“ „Das war der Kron¬
prinz Friedrich Wilhelm von Preußen!“ w. Petsch.