Full text: [Teil 1, Abteilung 1 = (Für Sexta), [Schülerband]] (Teil 1, Abteilung 1 = (Für Sexta), [Schülerband])

Zachariä. Castelli. Rückert. 
195 
86. Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt. 
Von Friedrich Rückert. Gedichte. Erlangen, 1836. 
1. Es ist ein Bäumlein gestanden 
im Wald 
In gutem und schlechtem Wetter; 
Das hat von unten bis oben halt 
Nur Nadeln gehabt statt Blätter; 
Die Nadeln, die haben gestochen, 
Das Bäumlein, das hat gesprochen: 
2. „Alle meine Kameraden 
Haben schöne Blätter an, 
Und ich habe nur Nadeln, 
Niemand rührt mich an; 
Dürft' ich wünschen, wie ich wollt', 
Wünscht' ich mir Blätter von lauter 
Gold". 
3. Wie's Nacht ist, schläft das 
Bäumlein ein, 
Und früh ist's aufgewacht; 
Da hat es goldene Blätter fein, 
Das war eine Pracht! 
Das Bäumlein spricht: „Nun bin 
ich stolz; 
Goldne Blätter hat kein Baum im 
Holz". 
4. Aber wie es Abend ward, 
Ging der Jude durch den Wald 
Mit großem Sack und großem Bart, 
Der sieht die goldnen Blätter bald; 
Er steckt sie ein, geht eilends fort 
Und läßt das leere Bäumlein dort. 
5. Das Bäumlein spricht mit 
Grämen: 
„Die goldnen Blättlein dauern mich; 
Ich muß vor den andern mich schämen, 
Sie tragen so schönes Laub an sich; 
Dürft' ich mir wünschen noch etwas, 
So wünscht' ich mir Blätter von 
hellem Glas". 
6. Da schlief das Bäumlein wieder 
ein, 
Und früh ist's wieder aufgewacht; 
Da hat es glasene Blätter fein, 
Das war eine Pracht! 
Das Büumlein spricht: „Nun bin 
ich froh; 
Kein Baum im Walde glitzert fo". 
7. Da kam ein großer Wirbelwind 
Mit einem argen Wetter, 
Der fährt durch alle Bäume geschwind 
Und kommt an die glasenen Blätter; 
Da lagen die Blätter von Glase 
Zerbrochen in dem Grase. 
8. Das Bäumlein spricht mit 
Trauern: 
„Mein Glas liegt in dem Staub, 
Die andern Bäume dauern 
Mit ihrem grünen Laub; 
Wenn ich noch etwas wünschen soll, 
! Wünsch' ich mir grüne Blätter wohl". 
! 9. Da schlief das Bäumlein wieder 
ein, 
Und wieder früh ist's aufgewacht; 
Da hat es grüne Blätter fein. 
Das Bäumlein lacht 
Und spricht: „Nun hab' ich doch 
Blätter auch, 
Daß ich mich nicht zu schämen 
brauch'". 
10. Da kommt mit vollem Euter 
Die alte Geiß gesprungen; 
Sie sucht sich Gras und Kräuter 
^Für ihre Jungen; 
Sie sieht das Laub und fragt nicht 
viel, 
Sie frißt es ab mit Stumpf und 
Stiel. 
11. Da war das Bäumlein wieder 
leer, 
Es sprach nun zu sich selber: 
„Ich begehre keiner Blätter mehr, 
Weder grüner noch roter noch 
gelber; 
Hätt' ich nur meine Nadeln, 
Ich wollte sie nicht tadeln". 
13*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.