Zachariä. Castelli. Rückert.
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86. Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt.
Von Friedrich Rückert. Gedichte. Erlangen, 1836.
1. Es ist ein Bäumlein gestanden
im Wald
In gutem und schlechtem Wetter;
Das hat von unten bis oben halt
Nur Nadeln gehabt statt Blätter;
Die Nadeln, die haben gestochen,
Das Bäumlein, das hat gesprochen:
2. „Alle meine Kameraden
Haben schöne Blätter an,
Und ich habe nur Nadeln,
Niemand rührt mich an;
Dürft' ich wünschen, wie ich wollt',
Wünscht' ich mir Blätter von lauter
Gold".
3. Wie's Nacht ist, schläft das
Bäumlein ein,
Und früh ist's aufgewacht;
Da hat es goldene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: „Nun bin
ich stolz;
Goldne Blätter hat kein Baum im
Holz".
4. Aber wie es Abend ward,
Ging der Jude durch den Wald
Mit großem Sack und großem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.
5. Das Bäumlein spricht mit
Grämen:
„Die goldnen Blättlein dauern mich;
Ich muß vor den andern mich schämen,
Sie tragen so schönes Laub an sich;
Dürft' ich mir wünschen noch etwas,
So wünscht' ich mir Blätter von
hellem Glas".
6. Da schlief das Bäumlein wieder
ein,
Und früh ist's wieder aufgewacht;
Da hat es glasene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Büumlein spricht: „Nun bin
ich froh;
Kein Baum im Walde glitzert fo".
7. Da kam ein großer Wirbelwind
Mit einem argen Wetter,
Der fährt durch alle Bäume geschwind
Und kommt an die glasenen Blätter;
Da lagen die Blätter von Glase
Zerbrochen in dem Grase.
8. Das Bäumlein spricht mit
Trauern:
„Mein Glas liegt in dem Staub,
Die andern Bäume dauern
Mit ihrem grünen Laub;
Wenn ich noch etwas wünschen soll,
! Wünsch' ich mir grüne Blätter wohl".
! 9. Da schlief das Bäumlein wieder
ein,
Und wieder früh ist's aufgewacht;
Da hat es grüne Blätter fein.
Das Bäumlein lacht
Und spricht: „Nun hab' ich doch
Blätter auch,
Daß ich mich nicht zu schämen
brauch'".
10. Da kommt mit vollem Euter
Die alte Geiß gesprungen;
Sie sucht sich Gras und Kräuter
^Für ihre Jungen;
Sie sieht das Laub und fragt nicht
viel,
Sie frißt es ab mit Stumpf und
Stiel.
11. Da war das Bäumlein wieder
leer,
Es sprach nun zu sich selber:
„Ich begehre keiner Blätter mehr,
Weder grüner noch roter noch
gelber;
Hätt' ich nur meine Nadeln,
Ich wollte sie nicht tadeln".
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