A. Erzählungen aus der alten Geschichte.
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auf eine so zweideutige Art, dass die Fragenden nie recht wussten,
wie die Antworten eigentlich gemeint wären, damit, wenn nach¬
her die Weissagung nicht zutraf, die Priester sagen konnten,
sie hätten es anders gemeint. Durch die vielen und reichen
Geschenke der Könige und reicher Privatleute waren in Delphi
ungeheure Reichtümer aufgehäuft. Ausser den vielen vergoldeten
Bildsäulen, mit denen die freien Plätze in der Nähe des Tempels
gleichsam wie besäet schienen, war der Platz unmittelbar vor
dem Tempel mit den kostbarsten Weihegeschenken der Könige
und Völker angefüllt. Auch die Nebengebäude waren voll grosser
Schätze, so dass die Einwohner der griechischen Provinz Phocis,
die einmal so gewissenlos waren, den Tempel zu überfallen und
zu plündern, an eingeschmolzenem Gold und Silber allein über
39 Millionen Mark gewannen.
10. Pie Gründung Noms.
Th. B. Weiter.
Ascanius, der Sohn des Äneas, war mit anderen trojanischen
Flüchtlingeil nach Latium in Italien gekommen und hatte dort die
Stadt Alba Longa erbaut. Einer von den späteren Königen dieser
Stadt, mit Namen Procas, hinterließ die Herrschaft seinen beiden
Söhnell Numitor und Amulius gemeinschaftlich. Der stolze Amulius
aber, welcher beu Thron mit keinem teilen wollte, verdrängte seinen
älteren Bruder, ermordete dessen Sohlt und machte, um vor aller
Nachkommenschaft und Thronbewerbung gesichert zu sein, dessen
Tochter Rea Sylvia zur Vestalin, d. i. Priesterin der Göttin Vesta.
Als sie aber zwei Söhne gebar, Romulus und Remus, da erschrak
der Oheim. Er ließ die Mutter lebendig begraben und die Kinder
nach dem Tiberflusse bringen, um sie dort auszusetzen. Zum Glück
war der Fluß ausgetreten. Die köitiglichen Diener setzten deshalb
den Korb mit den Kindern vorll auf das seichte Wasser itub gingen
davon. Das sinkende Wasser ließ eltdlich den Korb mit den wim¬
mernden Kindern auf dem Trockenen stehen. Eilte durstende Wölfin
— so geht die Sage — kam des Weges, fand die Kinder und
säugte sie. So traf sie ein vorüberziehender Hirt mit Namen Faustu-
lus. Er hob die Kleinen mitleidig auf und trug sie in seine Hütte.
Hier nun wuchs das wltnderbar gerettete Brüderpaar zu rüstigen
Hirten heran. Vor Kampflust überfielen sie oft die Hirten des Nu¬
mitor. Diese, der hältfigen Neckereien des wilden Brüderpaares und
ihrer Raubgenossen müde, ergriffen endlich den Remus und schleppten
ihn zu ihrem Herrn nach Älba. Numitor erkannte alsbald seinen
Enkel, offenbarte ihm das grausame Vorhaben des Amulius, und
beide Brüder beschlossen nun, an ihrem tyrannischen Oheim sich zu
rächen. Mit einer Schar verwegener Gesellen drangen sie in die
Stadt, ermordeten Amulius und setzten Numitor auf den Thron.