B. Erzählungen aus der deutscheu Geschichte. 16?
von Deutschland, Spanien und Holland. Welch ein Gegensatz zwischen
diesem Prahlenden Bilde und der Wirklichkeit dieses Tages! Ein ein¬
facher Altar war hergerichtet, links und rechts davon standen die
Truppen, welche die Fahnen nach Versailles gebracht hatten; die
Fahnenträger mit den Fahnen waren auf einer Estrade an einer der
schmalen Seiten ausgestellt. Dem Altar gegenüber nahmen der König,
der Kronprinz und die vielen fürstlichen Personen ihren Platz, um¬
geben von zahlreichen Generäleil und Offizieren. Ein Gebet eröffnete
die Feier, dann folgte die Predigt auf Grund des 21. Psalms: „Du
überschüttest ihn mit Segen und setzest eine goldene Krone auf sein
Haupt. Groß ist sein Ruhm durch Deine Hilfe; Würde und Hoheit
legtest Du auf ihn. Der König vertraut auf den Herrn. Sie spannten
die Netze des Unheils, sannen Anschläge, aber vermochten es nicht."
Mit dem mächtig hinaufschallenden Liede: „Nun danket alle Gott!"
war die religiöse Feier beendet. Der König schritt zur Estrade; dort
stand der greise Heldensürst, zu seiner Rechten der Kronprinz, zur
Linken Fürst Bismarck; die Fürsten traten hinter den König. Mit
bewegter Stimme verkündigte er, daß er die ihm dargebotene Kaiser¬
krone annehme, und erteilte dem Fürsten Bismarck den Befehl, die
Proklamation an das deutsche Volk zu verlesen. Darauf trat der
Großherzog von Baden vor und rief mit lauter Stimme: „Es lebe
hoch der König Wilhelm, der deutsche Kaiser!" Unter dem langen,
markigen Jubelrufe der ganzen Versammlung erschütterte sich die statt¬
liche Gestalt des Kaisers vor Rührung, helle Thränen stürzten ihm
aus den Augen, und in tiefer Bewegung schloß er den Kronprinzen
in seine Arme, als dieser zuerst ihm durch Handkuß huldigte. Auch
die anderen Fürsten unb alle Anwesenden brachten dem Kaiser ihre
Huldigung dar; dann schloß diese denkwürdige Handlung. Das war
ein Tag, wie ihn die Geschichte Deutschlands lange glicht gesehen,
und aus welche späte Jahrhunderte mit freudigem Stolze zurück¬
schauen werden.
23. Aus der Schulzeit Kaiser Wilhelms II.
Nach K. Neumann-Strela.
Uber den Aufenthalt unseres jetzt regierenden Kaisers als
Gymnasialschüler in Cassel wird von einem seiner Mitschüler
folgendes berichtet:
Dem damals im Herbst 1874 fünfzehnjährigen Prinzen, der
mit seinem gleichzeitig in das Casseler Gymnasium eintretenden
jüngeren Bruder Heinrich bis dahin Privatunterricht erhalten
hatte, sah man es anfangs an, dass er sich plötzlich wie in eine
andere Welt versetzt fühlte. Aber alles fesselte ihn und zog
ihn an. Selbst wenn auch einzelne Gegenstände, wie grie¬
chische und lateinische Grammatik, anfangs seinerNeigung weniger
zu entsprechen schienen, so lernte er sie trotzdem guten Mutes, #
und manchmal gestand er hinterher, dass ihm solche Gegen-