Full text: Deutsches Lesebuch für Sexta (Teil 1, [Schülerband])

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A. Erzählende Prosa. III. Erzählungen. 
nacht geschlafen habe, hätten vor vierzehn Jahren seinen Eltern in der 
Champagne gehört, die in der Plünderung alles verloren hätten und zu 
armen Leuten geworden seien, und jetzt denke er an alles und sein Herz 
sei voll Kummer. Denn er war der Sohn des geplünderten Mannes in 
der Champagne, und er kannte die Überzüge noch, und die roten Namens¬ 
buchstaben, womit sie die Mutter gezeichnet hatte, waren ja auch noch 
daran. Da erschrak die gute Frau und sagte, daß sie dieses Bettzeug 
von einem braunen Husaren gekauft habe, der noch hier in Neiße lebe, 
und sie könne nichts dafür. Da stand der Franzose auf, ließ sich in das 
Haus des Husaren führen und erkannte ihn wieder. 
„Denkt Ihr noch daran," sagte er zu dem Husaren, „wie Ihr vor 
vierzehn Jahren einem unschuldigen Manne in der Champagne Hab und 
Gut und zuletzt auch noch das Bett aus dem Hause getragen habt und 
habt keine Barmherzigkeit gehabt, als Euch ein achtjähriger Knabe um 
Schonung anflehte und ebenso seine Schwester?" 
Anfänglich wollte der alte Sünder sich entschuldigen, es gehe bekanntlich 
im Kriege nicht alles, svie es solle, und was der eine liegen lasse, hole 
doch ein anderer, und lieber nehme man's selber. Als er aber merkte, 
daß der Sergeant derselbe sei, dessen Eltern er geplündert und mißhan- 
delt hatte, und als er ihn an seine Schwester erinnerte, versagte ihm vor 
Gewissensangst und Schrecken die Stimme, und er fiel vor dem Franzosen 
auf die zitternden Kniee nieder und konnte nichts mehr herausbringen 
als: „Pardon!" dachte aber, es werde nicht viel helfen. 
Der geneigte Leser denkt vielleicht auch, jetzt wird der Franzose den 
Husaren zusammenhauen, und fteut sich schon darauf. Allein das könnte 
mit der Wahrheit nicht bestehen; denn wenn das Herz bewegt ist und vor 
Schmerz fast brechen will, mag der Mensch keine Rache nehmen. Da ist 
ihm die Rache zu klein und verächtlich, sondern er denkt, wir sind in 
Gottes Hand, und will nicht Böses mit Bösem vergelten. So dachte der 
Franzose auch und sagte: „Daß du mich mißhandelt hast, das verzeihe ich 
dir; daß du meine Eltern mißhandelt und zu armen Leuten gemacht hast, 
das werden dir meine Eltern verzeihen; daß du meine Schwester in den 
Brunnen geworfen hast und sie nimmer davongekommen ist, das verzeihe 
dir Gott!" Mt diesen Worten ging er fort, ohne dem Husaren das Ge¬ 
ringste zu leide zu thun, und es ward ihm in seinem Herzen wieder 
wohl. Dem Husaren aber war es nachher zu Mute, als wenn er vor 
dem jüngsten Gericht gestanden wäre und hätte keinen guten Bescheid be¬ 
kommen; denn er hatte von dieser Zeit an keine ruhige Stunde mehr und 
soll nach einem Vierteljahre gestorben sein. 
Es giebt Unthaten, über welche kein Gras wächst.
	        
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