Full text: Deutsches Lesebuch für Sexta (Teil 1, [Schülerband])

Lausch: Die Glücksmännlein. 
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Gerade in der Mitte des jenseitigen Seeufers wuchs das beste Gras; die 
beiden lang ausgestreckten Flügel des Sees waren arm und ausgedorrt. 
So seufzte denn der arme Hirt an heißen Sommertagen gar häufig und 
grübelte, warum in der Mitte des Sees nicht eine Furt den Durchgang 
gestattete zur Erleichterung von Hirt und Herde. In solcher Stimmung 
versuchte ihn der Böse. Die Sonne brannte herab, der Schweiß stand 
dem Schäfer auf der Stirn, und der Weg um den See war weit. Die 
Schafe gingen langsam, und der Hund war gegen seine Gewohnheit lässig. 
Da versprach der Teufel, bis zum andern Morgen, ehe der Schäfer wieder¬ 
käme, sollte ein Damm durch den See geführt sein, wogegen der Schäfer 
nicht nur seine eigene Seele, sondern auch die Seele seines Hundes ver¬ 
schrieb. Nach Sonnenuntergang sollte die Arbeit beginnen. 
Schon zeigte sich am andern Tage der erste graue Schimmer der 
Dämmerung, da krähte der Hahn früher als sonst. Auch die Frau des 
Schäfers erwachte und erstaunte über den frühen Ruf. Schlaftrunken 
erinnerte sie sich, die Thür des Hühnerstalls offen gelassen zu haben. Sie 
fanden denn auch, als sie es untersuchten, daß der Hund durch die offene 
Thür gedrungen war und den Hahn geweckt hatte. Darum trieb ver Schäfer 
etwas früher als gewöhnlich an den See, vor Angst mehr tot als lebendig. 
Und siehe — die Arbeit des Satans war fast vollendet. Eine Landzunge 
schoß mitten durch das Wasser und näherte sich dem andern Ufer bis aus 
wenige Schritte. Aber dieser schmale Raum war so tief, daß er kaum 
ergründet werden konnte. Ein Stück Papier lag in der Nähe des Ufers 
im Wasser und erwies sich als der verhängnisvolle Vertrag, den die 
Krallen des Teufels zerrissen hatten. Der Hahnenruf hatte den Teufel 
verjagt und der treue Hund den Schäfer gerettet. 
37. Die Glücksmännlein. 
Nach E. Lausch. Die schönsten Kinder- und Volksmärchen. 
Auf denl Riesengebirge liegt ein wunderschöner Lustgarten, in dem 
die herrlichsten und seltensten Blumen der Welt blühen. Schade nur, daß 
gewöhnliche Menschenkinder den Garten niemals zu sehen bekommen; denn 
der Eigentümer dieses Paradieses ist kein anderer als Rübezahl, der Geist 
des Gebirges, und dieser gestattet nur ganz besonderen Glückskindern zu 
ganz besonderen Zeiten und in ganz besonderen Fällen den Eintritt und 
Anblick seiner Herrlichkeiten. So erzählt das Volk in Schlesien, und es 
erzählt noch dazu, daß in dem Lustgarten die Glücksmännlein wachsen. 
Wer die in der Johannisnacht pflücke, werde reich und glücklich für sein 
ganzes Leben; aber eine Waise müsse es sein, und fromm und aufrichtig 
müsse sie auch sein; wer es außerdem wage, sich dem Lustgarten zu nahen, 
dem breche Rübezahl ohne Gnade und Barmherzigkeit den Hals.
	        
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