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W. Grube: Kyffhäusersagen. 75
Als in der Zeit, da Kaiser Otto am fernen Rheine kämpfte, wendische
Völkerschaften im Norden und Osten die Grenzen des Reiches bedrängten
und besonders im Harz- und nordthüringischen Gau die Fesseln der
deutschen Herrschaft abzuschütteln strebten, zog ihnen Markgraf Gero ent¬
gegen. Mit starker Hand hatte er bald die Feinde des Vaterlandes ge-
demütigt und viele Aufstände mit Umsicht und Kraft unterdrückt. Die
Fürsten der Wenden waren aber nach der erlittenen Demütigung von
Rache gegen den Markgrafen entbrannt und trachteten danach, dieselbe bei
gelegener Zeit zu kühlen. Viele Versuche, ihm meuchlings das Leben zu
rauben, mißglückten; denn das blitzende Auge Geros und sein stets ge-
waffneter Arm wußten jede Hinterlist frecher Gesellen zurückzuweisen.
Doch war Gero trotz seines unermüdlichen Wirkens für das Wohl
der eroberten Länder nicht im stände, die Herzen der Wendenfürsten sich
zu gewinnen und ihren Haß in Liebe zu verwandeln. Er merkte trotz
ihres freundlichen Wesens wohl, wie sehr sein Leben in Gefahr schwebe, ,
und vermied alles, was diese Gefahr erhöhen konnte. Die Fürsten aber
drängten sich immer mehr in seine Nähe und wurden ihm von Tage zu
Tage gehässiger. Endlich beschloß Gero, all diesem Treiben ein Ende zu machen.
Er lud dreißig Wendensürsten zu einer Ratsversammlung und be¬
wirtete sie fürstlich. Das üppige Mahl und der köstliche Wein mundete
ihnen, und bald umnebelten die starken Getränke ihre Sinne. Diesen ii
Zeitpunkt hatte Gero herbeigesehnt. Plötzlich entspann sich ein Streit, und
die Schwerter von Geros Freunden blitzten über den Köpfen der Wenden. •
Unfähig sich zu verteidigen, sanken sie röchelnd zu Boden und färbten den
Saal mit ihrem Blute. Nur ein Fürst entrann dem fürchterlichen Ge¬
metzel und brachte die Trauerkunde in die Wohnungen der Witwen und
Waisen. Eine weite Gruft aber nahnl die Leiber der Erschlagenen auf.
Alljährlich am Tage des Blutbades öffnet sich das große, breite Grab
um Mitternacht, und bleichen Angesichts und hohlen Auges steigen die
Fürsten hervor. Blutige Schwerter blitzen im Mondenschein, und dumpfes
Getön wie: „Wehe!" und: „Rache!" tönt durch die Luft, bis der Schall
der Klofterglocken im kühlen Morgenhauche verweht und zugleich die schau¬
rigen Gestalten in die kühle Gruft zurückkehren. An demselben Tage soll
es uni Mitternacht auf dem Chore der alten Kirche in Gernrode nicht
geheuer sein, und manches Sonntagskind will den greisen Wendenbändiger
geschaut haben, wie er dem Grabe entstiegen und nach seiner Stammburg
gewandelt sei. _
48. Kyffhäusersagen.
1. Kaiser Rotbart im Kyffhäuser.
Nach W. Grube. Charakterbilder aus der Geschichte und Sage.
Neben den weitläufigen Ruinen der alten Kaiserburg Kyffhausen über
der alten Kaiserpfalz Tilleda steht noch wohlerhalten ein alter Burgturnt