Full text: [Abt. 2 = Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Quinta, [Schülerband])

104 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, c) Römische Sagen. 
Last, auf seinen Rücken und verließ fliehenden Fußes, seinen Sohn 
Julus an der Hand, die Stätte der Verzweiflung. Am Meeresgestade 
sammelte sich um den' Helden als um einen unverzagten Führer die 
geringe Schar der Trojaner, welche dem Verderben entronnen waren; 
nur das Meer bot Zuflucht vor den Feinden und Hoffnung, in der 
Ferne eine Stätte neuen Glücks zu finden. Auf zwanzig Schiffen 
steuerten die Flüchtlinge von dannen. Ein Orakelspruch bezeichnete dem 
Äneas die Küste Italiens als den Ort, wo ihm nach dem Ratschlüsse 
der Götter ein neues Reich zu gründen bestimmt war. Auch für die 
Stelle, an welcher die neue Stadt gegründet werden sollte, erhielt er 
ein unzweifelhaftes Zeichen. Wo ihn nämlich der Hunger zwänge, 
samt seiner Mahlzeit die Tische zu verzehren, so lautete der Spruch, 
da sollte er seinen zweiten Herd sich erbauen. Die weiten Fluten trugen 
die Heimatlosen von Meer zu Meer, von Asien nach Thracien, Delos 
und Kreta und dann auf die Pfade des Ulysses, an Siciliens entlegene 
Küste. Hier entriß der Tod dem Äneas seinen treuen Berater, den 
kundigen Führer seiner Fahrt, den teuern Anchises. 
Endlich liefen die Schiffe nach mancherlei Äbenteuern in die Mün¬ 
dung der Tiber ein, und kaum hatten die des Umherirrens müden 
Männer den Fuß auf das feste Land gesetzt, als sie die längst erharrte 
und doch unerwartete Erfüllung des Orakels mit fröhlicher Hoffnung 
belebte. Die ganze Schar nämlich, im Freien unter einem schattigen 
Baum gelagert, stärkte sich an einem kärglichen Mahle, das nur aus 
einem kunstlos geformten Brotkuchen bestand, da die Einöde nichts 
Besseres darbot. Die Speise war verzehrt, doch der Hunger noch nicht 
gestillt; unwillkürlich griffen sie auch zu den breiten Eppichblättern, die 
dem Kuchen als Unterlage gedient hatten, und noch waren diese nicht 
alle verzehrt, als sie lächelnd bemerkten, daß sie ja auch die Tische auf¬ 
äßen, von denen sie ihr Mahl eingenommen hätten, daß also das Land 
ihrer Verheißung gefunden sei. 
Dieses Land hieß Latium und wurde von einem Könige namens 
Latinus beherrscht. Auch dem war die Ankunft der Fremdlinge durch 
göttliche Zeichen angekündigt worden. Er hatte nämlich keine Söhne, 
sondern nur eine einzige Tochter, Lavinia. Als dieselbe einstmals neben 
ihrem Vater am Herde des Hauses stand und ihn mit frischen Brän¬ 
den versah, schien es auf einmal, als wenn ihr Haar Feuer finge und 
in demselben Augenblicke ihr Kleid, ihr ganzer Körper in lichten 
Flammen stände, die sich durch den Palast weithin verbreiteten. Der 
König, dessen letzte Hoffnungen sich an die einzige Tochter knüpften, 
glaubte in dieser Erscheinung ein Zeichen zu erkennen, daß Lavinia 
dem Volke und dem Lande die Entscheidung großer Dinge, aber auch 
Krieg und Verderben bringen würde. Erschrocken eilte er zum Orakel 
seines göttlichen Vaters, des Faunus, an der Quelle Albunea. Seine 
Vermutung ward bestätigt, der weissagende Gott erteilte ihm den Aus¬ 
spruch: „Deine Tochter sollst du mit keinem Eingeborenen vermählen; 
ein Mann wird aus der Fremde erscheinen, den das Schicksal zu deinem 
Schwiegersöhne und Nachfolger bestimmt hat. Sein Stamm ist dazu
	        
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