170 B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder.
Unscheinbarste an den Obstbäumen; ohne kräftigen Stamm, ohne augen¬
fällige Höhe, ohne malerisch in einander greifende Verzweigung gleichen
sie bloßen Holzgestellen, und ihr trübes, graugrünes Laub ist nicht ge¬
eignet sie zu beleben.
Nur der Nußbaum, kräftig und wohlgemut, entfaltet sich in statt¬
licher Breite. Die Zweige, die sich leichtgebogen hinausschwingen, tre¬
ten von unten auf voll um den Stamm und dehnen sich weit umher.
Oben gliedern sie sich zu einem ansehnlichen Wipfel, wenn nicht die
Kälte seine Entwicklung hindert. Die Rinde ist glatt und mattfarbig
und stimmt wie das herbduftige, langgeschlitzte Laub zu der strotzenden
Saftfülle des Baumes. Auch Birn- und Apfelbaum machen zu¬
weilen eine Ausnahme von der gewöhnlichen unscheinbaren Gestalt der
Obstbäume. Der erstere namentlich erhebt sich öfter zu bedeutender
Größe, seine Blätter haben einen frischeren Glanz, die Zweige schließen
sich zu runden Wipfeln. Zugleich ist er der einzige Fruchtbaum, der
hie und da noch verwildert umhersteht und aus dem Kornfelde mächtig
emporragt, ein traulicher Sammelplatz der Schnitter und der Alten.
Der Apfelbaum ist niedriger und flacht seine Zweige nicht zu Schirm¬
dächern ab; man erkennt die Vorsorge, mit welcher er die sonnen¬
bedürftige Frucht dem reifenden Strahl entgegenhält. Er gehört an
das Strohdach des Bauern, in den Grasgarten, auf die Landstraße.
Den einzigen Reiz gewährt den Obstbäumen ihre Blüte. Was
wäre der Mai ohne sie? Welche Überraschung, wenn dann zuerst der
Pfirsich über Nacht aufsteht, an allen Zweigen schimmernd, wie ein
purpurnes Wunder des Frühlings! Wie leuchtet der duftige Schnee
des Kirschbaums! Kein grüner Punkt ist zu entdecken in der blühen¬
den Fülle. Wie rosig dämmerlls um den bienendurchsummten Apfel¬
baum! Wie schön, wenn im Windeswehen Tausende von Blättchen
herabwirbeln und taumeln, niedliche Trinkschalen, aus denen taudurstige
Käfer nippen. Der Zauber der Frühlingsverjüngung tritt uns gerade
hier besonders ergreifend entgegen, und mit den Blüten am Baum er¬
wachen die im Gemüte, die Gefühle der Freude und Lust, der Dank¬
barkeit und der Hoffnung.
Mehr sinnlich ist der Farbenreiz, mit dem uns das Obst ergötzt,
sowie der Reiz des Genusses der Frucht. Die knappen, festen Nu߬
schalen mit ihrem Milchkern, so lockend ausgehängt und so kunstvoll
erbeutet, das sind helle Punkte des Jugendlebens. Der dralle Ball
des Apfels, die gelbe Honigglocke am Birnbaum, die saftschwellende,
flaumumhüllte Aprikose, alle die Gaben Pomonas lachen und winken
mit ihren roten Wangen dem Knaben, der sie erklettert, dem Wanderer,
der sie herablangt, dem Fahrenden, dem sie sich bequem in den Schoß
legen. Wer, wenn er an lauen Tagen im Baumschatten lagert und
nun plötzlich die reife Frucht aus der Stille über ihm herabschlägt,
wer dächte nicht eben ans Suchen und Essen? Bei dem fühlenden
Menschen freilich tritt noch eine liefere Stimmung hinzu: es ist die der
Bewunderung und Dankbarkeit, in welche der Reichtum der Naturgaben
ihn überall versetzt. Uhlands Lied auf den Apfelbaum spricht diese