Full text: [Abt. 2 = Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Quinta, [Schülerband])

Meyer: Die Schwalbe. 
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kommt sie geflogen, schwenkt vorüber, schließt nochmals den Kreis; dann 
blitzschnell trifft sie aufs Nest, und schwebend über ihm und flatternd 
hält sie eine Fliege, die Jungen zwitschern und schnappen die Beute 
weg. Und wie ein Pfeil fliegt die Schwalbe über Strom und Felder 
davon. Bald ist sie wieder da und hinter ihr neckend eine andere; sie 
segeln um das Dach, da stürzt die verfolgte ins Zimmer herein. Schnell 
das Fenster zu! Wie sie an den Wänden vorüberstreift und an der 
Diele kreist, mit gebogenem Leib, mit gebücktem Kopfe und breit¬ 
gefächertem, niedergedrücktem Schwänze, und fest angezogen ihre Fü߬ 
chen hält! Das Element ist ihr nicht weit, nicht tief genug, und sie 
schlägt jetzt ängstlich die Schwingen; dann setzt sie sich ermüdet über 
den Vorhang und kreuzt in Ruhe die langen Flügel. Draußen singt 
die Gespielin und wendet das Köpfchen nach jenem Vögelchen, das 
vorüberfliegt; nur einsilbig antwortet und wie verzagt die Gefangene; 
sie sieht den klaren Himmel, die grüne Landschaft; sie schießt fort, ach, 
und stößt den Kopf an die trügerischen Scheiben an, flattert und taumelt 
zu Boden. Da hab' ich sie gefaßt. Nur ruhig! Warum zitterst du? 
Bist du doch bei deiner Hütte und in Freundeshand; bist ja so oft 
mir um den Kopf geschwärmt ins Zimmer, hast deine Kreise gemacht 
und alsdann munter dich wieder ins Freie hinausgeschnellt und hast 
vom Dache herab dein süßes Liedchen hören lassen. So keck blickt mich 
das Plattköpfchen mit seinen dunkeln, kleinen Augen an, öffnet gar das 
breite Schnäbelchen und weifet die gespaltene Zunge. Wie es sich 
wehrt, das arme Ding, mit feinen Füßchen und den scharfen Nägeln 
kratzt! Nein, ich thue dir nichts, bist doch so glatt und schmuck im 
stahlblauen Gewände und dem weißen Schürzchen, ein wahres Haus¬ 
vögelchen, von aller Hoffart frei; das braune Stirnband und Brusttuch 
sind dein einziger Schmuck und an deinem Federfächer die Reihe weißer 
Perlen. Nun will ich dich füttern, in schönem Gitterkäfig dich be¬ 
wahren, dich pflegen. — „Nein," ruft der Vater, „laß sie fliegen! 
Häuslich ist sie und zutraulich, aber ans freie Element gewöhnt, und 
nur bei ihren Gespielen und ihren Kindern ist ihre Heimat. Mi߬ 
brauche das Vertrauen nicht, mit dem sie in dein Zimmer flog, zu dir 
sich rettete!" — Da öffne ich das Fenster und schließe sachte die Hand 
auf. Die Schwalbe rührt sich nicht, nur ihre Äuglein spielen; jetzt 
pfeifen die Jungen, sie hat ihre Stimme vernommen, ist aufgeflogen, 
zieht einen Kreis in der Lust, hat eine Mücke weggeschnappt und fliegt 
dem Neste zu. 
Der Herbst geht vorüber, die Schwalben scharen sich an Teichen 
und Seeen zusammen und fliegen auf, einer andern Heimat zu; mit 
ihnen ziehen meine Schwalbe und ihre Jungen. Der Winter wird 
frostig; manch scheues Spätzchen naht, ihm werden Krumen vors Fenster 
gestreut; aber die Schwalbe lebt fern und frei unter Citronen und 
Orangen und schwärmt um die Krone der Palmen. Und kommt der 
Frühling mit seinen linden Lüften, so bringt er sie auch wieder heim; 
sie läßt von den Düften und der Pracht der Blumen, von der Fülle 
des Reichtums sich nimmer zurückhalten, sie trotzt den Stürmen, trotzt
	        
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