Full text: [Abt. 2 = Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Quinta, [Schülerband])

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B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder. 
den Gewittern, überfliegt die Meere und findet die Hütte, findet ihr 
Nestchen bei ihren alten Bekannten. Ihr Lied begrüßt mich des Mor¬ 
gens früh, sie kreiset wieder mit ihren Gespielen um das Dach, und 
sie helfen sich treulich ihren Erker wieder bauen und ausbessern. 
107. Der Steinadler. 
Von Friedrich von Tschudi. Das Tierleben der Alpenwelt. Leipzig, 1854. 
Auf hohem Grat hat sonnumleuchtet 
Der Aar die Flügel ausgespannt 
Und blickt herab, wo taubefeuchtct 
Im Schlummer liegt das weite Land. 
Ihm ist der Tag schon aufgegangen, 
Doch unten liegt noch Dunkelheit, 
In die das Kind mit frischen Wangen, 
Der Morgen, leise Strahlen streut. 
Wohin den Flug der Schwingen lenken? 
Soll er hinauf zur Sonne ziehn? 
Soll er hinab zur Erd' sich senken? 
Denn zwischen beiden schwebt er hin. 
Dort oben wogt ein unbegrenztes, 
Ein ungemeßnes Meer von Licht, 
In Purpur und Azur erglänzt es, 
Doch bleiben kann er oben nicht. 
Zur festen Erde muß er wieder 
Aus bodenlosem Sonnenschein; 
Und müde zieht er das Gefieder 
Nach solchem Flug im Walde ein. 
Von den Adlern des Gebirges ist der Steinadler, der, wenn er 
alt ist, auch Goldadler heißt, vielleicht der bekannteste, der am all¬ 
gemeinsten verbreitete und zugleich der reißendste. Er ist ein durch 
Größe und Haltung hervorragender Vogel, 3 bis 3% Fuß lang und klaf¬ 
tert mit ausgespannten Flügeln gegen 8 Fuß. Der abgerundete Schwanz 
mißt 14 Zoll, die zusammengeschlagenen Flügelspitzen erreichen das 
Ende desselben nicht. Das Männchen, gewöhnlich etwas kleiner und 
lichter gefärbt als das Weibchen, sieht von fern fast ganz schwarz aus, 
ist aber eigentlich schwarzbraun, die Befiederung der Fußwurzeln und 
Schwanzdeckfedern lichtbraun, der Hinterhals rostbraun, der Schwanz 
an der Wurzel weiß, dann aschgrau und schwarzgefleckt, mit breiter 
schwarzer Endbinde. Je älter der Vogel wird, desto mehr bräunt sich 
sein Gefieder ab; die Jungen sind kohlschwarz mit schmutzigweißen 
Federfüßen. Der Schnabel ist hornblau, mit gelber Wachshaut ge¬ 
säumt und zwei Zoll lang, von der Wurzel an gekrümmt, während am 
Schnabel des Geiers bloß die Spitze sich biegt, die Iris goldfarbig, 
im hohen Alter feuerfarben. Der Lauf ist bis an die Zehen mit kurzen, 
derben lichtbraunen Federn dicht besetzt, was den Steinadler von ähn¬ 
lichen Arten sicher unterscheidet; die Zehen sind hellgelb, die Ballen 
groß und derb, die schwarzen Krallen groß und sehr spitz, die hinteren 
fast drei Zoll lang. Das Gewicht eines alten Adlers steigt selten über 
12 Pfund. 
Dieser schöne, mächtige Vogel findet sich in der Schweiz nur in 
den Hochgebirgen; im übrigen Europa, in Asien und Nordamerika aber 
auch neben den tiefländischen Adlern in den großen Wäldern der Ebene 
und an den Küsten. Nur im Winter, wo die Murmeltiere unter der 
Erde liegen, die Gemsen, Hasen, Schafe und Ziegen sich in die tieferen 
Wälder und ins Thal ziehen, verläßt er in den Alpen seine Horste, 
um die Thäler und Niederungen zu durchstreifen, und auch dann nur
	        
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