Full text: [Abt. 2 = Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Quinta, [Schülerband])

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B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder 
gewachsen ist der Hörnerschmuck aber erst im dritten Jahre. Die Fär¬ 
bung ist lichter als bei den Alten. Sie lieben in ihrem Einfange 
etliche Steinabsätze, auf die sie sich gern postieren. Im Winter darf 
man ihnen kein warmes Lager bereiten, sondern bloß unter einem 
offenen Dächlein ein wenig Streu. Mitten im Winter liegen sie am 
liebsten unter dem offenen Fenster, durch welches der Wind mit 
Schneegestöber lustig hereinpfeift. Sie werden weder so alt noch so 
kräftig wie die freien Gemsen; oft bricht auch bei ihnen die angeborene 
Wildheit wieder hervor, und sie verletzen Fremde mit ihren Hörnern 
gefährlich. 
Außer den Menschen verfolgen die großen Raubtiere gern die 
Gemsen. Im Engadin geschah es, daß ein Bär einer Gemse bis ins 
Dorf nachlief, wo diese sich in einen Holzschuppen rettete. Im Winter, 
wo sie sich in die einsameren Wälder zurückziehen, lauert ihnell der 
Luchs eifrig auf; im Sommer ist ihnen der Lämmergeier und etwa 
der Steinadler gefährlich. Jener hebt die jungen leicht in die Lüfte 
und sucht die alten, die am Rande der Abgründe weiden, mit den 
Flügeln hinunterzustoßen, um sie in der Tiefe zu verzehren. Auch 
geschieht es nicht selten, daß eine Lawine eine ganze Herde überrascht 
und verschüttet oder lose Steine, die während des Frühlings und 
Sommers überall von den Höhen stürzen, einzelne erschlagen. 
In allen Teilen der Alpen sind die Gemsen noch viel häufiger, 
als man gemeinhin glaubt, da man bei Alpenreisen im Sommer ihrer 
nur wenige gewahr wird, und die oft ausgesprochene Befürchtung, es 
möchten die Gemsen in einigen Jahrzehnten wie die Steinböcke aus¬ 
gerottet sein, ist durchaus unbegründet. So lange die Alpen stehen, 
werden sie auch Gemsen beherbergen. Abgesehen von der Schwierigkeit 
der Jagd und von der sich entschieden immer mehr verringernden An¬ 
zahl eigentlicher Gemsenjäger schützt schon die Beschaffenheit ihrer 
Region die Tiere vor völliger Ausrottung ganz sicher. Dazu kommt 
der verhältnismäßige Schutz der Jagdgesetze, die immer größere 
Seltenheit der für die Gemse gefährlichen Raubvögel und Vierfüßer 
und endlich die außerordentliche Vorsicht, Klugheit und Schnelligkeit 
der Tiere, die in dieser Hinsicht den Steinböcken gar sehr überlegen 
sind. Wenn auch in der Schweiz alljährlich 6—700 Gemsen ge¬ 
schossen würden, was kaum der Fall ist, so würde doch der Gemsen¬ 
stand dadurch allein nicht bedrohlich geschwächt werden. 
111. Das Gewitter. 
Bon Christian Kaspar Lorenz Hirschseld. Das Landleben. Bern, 1776. 
Die Sonne verbirgt sich hinter den schwarzen Wolkengebirgen, die 
Nacht überwältigt den Tag; die Lüfte heulen, die Wälder rauschen, die 
wirbelnden Stürme, die Vorboten des nahen Donners, treiben Sand 
und Staub und Blätter mit einem bangen Getöse umher; die Wellen 
der Flüsse empören sich, brausen und wälzen sich ungestüm fort. Es 
fliehen die scheuen Tiere den Felshöhlen zu, mit ängstlichem Geschwirre
	        
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