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Olymp, denn sie konnte den betäubenden Duft nicht länger ertragen,
der die ganze Höhle durchdrang. Aber der Schlaf wählte aus der Schar
seiner tausend Kinder den Morpheus, daß er den göttlichen Befehl aus¬
führe; denn dieser war vor allen geschickt, Gang und Stimme, Gestalt
und Antlitz der Menschen nachzuahmen. Der Alte sank zurück und barg
wieder das Haupt im weichen Polster; Morpheus aber flog mit ge¬
räuschlosen Fittichen durch die Nacht und neigte sich über das Lager
der schlummernden Halkyone. In des Ertrunkenen Gestalt, totenbleich,
nackt, mit triefendem Bart und Haupthaar, die Wangen mit Tränen
überströmt, sprach er also: „Kennst du deinen KeyX noch, armes
Weib? Oder hat der Tod mir die Mienen verwandelt? Du kennst
mich! Ach, ich bin nicht Keyr, nein, nur sein Schatten. Ich bin tot,
Geliebte. Im Ägäischen Meer, wo der Sturm unser Fahrzeug zerschellte,
schwimmt meine Leiche. Darum lege Trauerkleider an, und weihe mir
Tränen, daß ich nicht unbeweint in die traurige Unterwelt wandeln
mutz!" Zitternd streckte die Schlafende die Arme aus, ihr eignes
Schluchzen weckte sie. „O bleibe! Wo eilst du hin?" rief sie dem
schwindenden Traumbild nach, „latz mich mit dir gehen!" Als sie nun
allmählich zum vollen Bewutztsein kam, schlug sie das Haupt mit den
Händen, zerraufte sich das goldene Lockenhaar, zerritz ihr Gewand und
schrie laut auf vor unendlichem Jammer.
So nahte der Morgen. Da ging sie hinaus an das Meeresgestade,
den Ort zu besuchen, wo sie einst dem Geliebten die letzten Grütze nach¬
gesandt hatte. Wie sie so mit tränenden Augen in die blaue Ferne
blickte, da erschien plötzlich weit vom Strande in den Wellen etwas wie
ein menschlicher Körper. Immer näher trugen es die Wogen heran,
und je näher es kam, je mehr und mehr schwanden ihr die Gedanken.
Jetzt, jetzt schwamm es ganz nah ans Land. „Er ist's!" schreit die
Unglückliche, die Hände nach dem Leichnam des teuren Gatten aus¬
streckend, „so also kehrst du mir zurück, du Armer! Wohlan, empfange
mich denn, ich komme zu dir!" In die Flut will sie sich stürzen, aber
siehe! Flügel heben sie durch die Luft, wehmütig klagend flattert sie
als Vogel dicht über die Gewässer hin und schwingt sich schluchzend
an die Brust des toten Gemahls. Und ist es nicht, als ob er die Nähe
des trauten Weibes fühlte? Ja, wahrlich, die mitleidigen Götter ver¬
wandeln auch seine Gestalt und leihen ihm neues Leben. Als Eisvögel
hallen die beiden Gatten noch immer treu die alte, zärtliche Liebe,
in nie getrenntem Ehebund leben sie fort. Mitten zur Winterzeit