Object: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

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219. Die treue Gudrun. 
nun auch Hagen das Haupt abschlug, sprang der alte Hildebrand zornig hinzu 
und tötete sie mit einem Streiche seines Schwertes; König Etzel aber beklagte 
all' die gefallenen Helden. ~ Schöne. 
219. Die treue Gudrun. 
(Nordsee sage.) 
1. Wie Gudrun mit Herwig verlobt ward, 
Tn alten heidnischen Zeiten herrschte über die Friesen, welche den 
langen Festlandssaum und die Inseln der Nordsee bewohnten, der 
mächtige König Hettel. Seine Gemahlin war die schöne Hilde von 
Irland, Tochter des gewaltigen Plagen, dem er sie einst mit List und 
Gewalt entführt hatte. Denn unter seinen Dienstmannen waren nicht 
nur kühne und starke Helden, wie vor allen Wate von Stürmen, der 
Riese mit dem ellenbreiten Barte, sondern auch solche, die mit ver¬ 
wegener List stets ihr Ziel zu erreichen wussten, wie die Dänen Frute 
und Horand. Der letztere hatte bei Hildens Entführung besonders 
durch seine wunderbare Sangeskunst geholfen: wenn er seine schönsten 
Weisen anhub, so liessen die Tiere im Walde und die Fische im 
Wasser ihre Fährten, und vollends die menschlichen Gemüter wusste 
er so zu bezaubern, dass sie ganz willenlos ihm folgten. So hatte 
denn auch Hilde seiner Verlockung nicht widerstehen können: heimlich 
war sie mit ihm ins Friesenland gefahren, um König Hettels Gemahlin 
zu werden, und als ihr starker Vater ihr nachgesegelt war, hatte vor 
allen der riesige Wate durch seine ungeheure Kraft ihn zurück¬ 
geschlagen. 
Man könnte also glauben, dass auf dem friesischen Königspaar 
kein Segen geruht hätte. Aber es schien dennoch so. Zwei herr¬ 
liche Kinder waren ihnen herangeblüht: die liebliche Gudrun, die noch 
schöner war, als einst ihre Mutter; aber weil ihr niemand etwas davon 
gesagt hatte, so wusste sie nichts davon, und frisch und fröhlich sah 
sie aus ihren blauen Augen in die Welt hinein; ihr etwas jüngerer 
Bruder aber war* der rasche und kräftige Ortewin, den der greise 
Wate zu aller Heldentugend erzogen hatte. Hettöl und Hilde sahen 
mit Lust und hohem Stolz auf ihre Kinder; aber bald sollten sie erfahren, 
wie geringen Bestand alles Irdische habe. 
Die Kunde von Gudruns Schönheit und von dem Reichtum und 
der Macht ihrer Eltern lockte bald von nah und fern zahlreiche Freier 
herbei. Zuerst kam Siegfried von Moorland und begehrte Gudrun 
zum Weibe, aber die stolzen Eltern wiesen ihn ab, weil er nicht mächtig 
genug sei. Ebenso erging es dem Normannenfürsten Hartmut, dem 
Sohn des reichen Königs Ludwig. Und als zu drift der edle und 
starke König Herwig aus Niederland kam, verweigerten auch ihm die 
Eltern ihre Tochter; aber da rückte er mit einem grossen Heere vor 
Plettels Burg und bewies täglich durch kühne Thaten, dass er ein 
echter Held sei. Das gefiel dem König Hettel wohl, und als nun auch 
Gudrun bat, um ihretwillen nicht mehr Blut zu vergiessen, so ward
	        
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