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Thal erweiterte sich, indem es sich in mannigfaltigen Krümmungen wand;
aber die Felsenwände standen in erschreckender Höhe und Nähe da, und
nur ein schmaler Streifen des blauen Himmels warf ein dämmerndes Licht
in die enge Tiefe, die unseinklemmte. Hier trafen wir eine Wohnung-,
ein Bauer mit seiner Familie hat sich in diese einsame Schlucht hinein¬
gedrängt, und aus der Rauch- und Lichtöffnung entdeckt man beide Felsen¬
wände zugleich. Es ist, als drohte sie hoch über dem Dache des kleinen
Hauses sich zu schließen. Als wir nun in diesem seltsamen Thale den
Biegungen folgten, den brausenden Fluß neben uns, von den drohenden
Felsen eng umschlossen, ward es immer dunkler. Der Tag ist hier viel
kürzer, selbst mitten im Sommer dringt die Sonne nur ein paar Stunden
in die enge Kluft herein, und bald tappten wir im Finstern. Riesenhafte
Felsenblöcke hatten sich in dem engen Thale angehäuft, nicht, wie ge¬
wöhnlich, von oben heruntergestürzt. Die Wände waren unten im Grunde
wie zersprengt; große Aushöhlungen hatten sich dadurch gebildet, und
die feste Masse hing wie frei schwebend auf beiden Seiten über uns.
Dichtes Gebüsch wucherte verworren zwischen den Felsentrümmern, die
in wilder Unordnung übereinandergestürzt waren; einzelne große Bäume
umfaßten mit ihren kahlen Wurzeln die rauhen Blöcke und schauten von
der Höhe düster in das vorüberrauschende Wasser. Das Fortkommen ward
immer beschwerlicher, ja, als die Finsternis zunahm, sogar gefährlich. „Hier
ist die Kirche und die Kanzel," sagte Jngier, „und hier wollen wir bleiben."
Unser Begleiter hatte uns verlassen, er war bei seinen Ver¬
wandten in der einsamen Rauchhütte geblieben, und Jngier hatte die
Führung über sich genommen. Es war uns, jung und rüstig, wie wir
waren, keineswegs unangenehm, die Nacht auf eine solche Weise zuzu¬
bringen. Eine wilde Zusammenhäufung von Felsenmassen, die einen
mannigfaltig sich windenden engen Raum einschließen, nennt man die
Kirche, ein schmaler Eingang führt zu den Höhlen, und es war unsere
Absicht, Gras und Moos zu sammeln, um uns dort ein nächtliches Lager
zu bereiten. Und hier, wo wir, begraben in den verborgensten Tiefen
der Steinwelt, wie unterirdische Geister in nächtlicher Stille herumwühlten,
während die Gebirgswasser neben uns brausten, erschien uns alles wahr¬
haft gespensterhaft. Wir hatten ein Licht angezündet, kein Luftzug drang
zu uns. Trockene Zweige wurden zum Brennen gebracht, und schnell
prasselte eine mächtige Flamme auf, die eine seltsame Beleuchtung auf die
Bäume, auf die dunklen Felswände und das brausende Wasser warf.
Steffen.
180. I)i6 Femgerichte.
Außerordentliche Zeiten wie jene, wo alles gegeneinander
kämpfte, der Kaiser gegen den Papst, die Fürsten gegen den