Full text: (Fünftes und sechstes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

28. Der Baumstamm. 
keije ich auf meinem Wege einen gefällten Baumstamm liegen, so 
kann ich nicht vorübergehen, ohne den Toten zu betrachten und 
sein Geschick zu erforschen. 
Ich zähle die Ringe auf der Durchschnittssläche und weiß nun, 
5 wie alt er geworden, wieviel Jahre er gegrünt und geblüht hat, ich 
sehe, daß einige der Jahresringe dünner und schmaler ausgefallen sind 
als die übrigen; das sind Hungerjahre für den Verstorbnen gewesen, 
da hat er mit Nahrnngssorgen zu kämpfen gehabt. Dagegen finde ich 
einen andern ungemein breit; in diesem Jahr ist es ihm wohl ergangen, 
io da hat es an Sonnenschein und Regen nicht gefehlt. 
Ich bemerke ferner, daß der Kernpunkt, das Mark, nicht in der 
Mitte der Durchschnittsfläche liegt, daß auf der linken Seite des 
Stammes die Jahresringe enger zusammen stehen als auf der rechten, 
und weiß nun, daß ihm von seiner rechten Seite die Nahrung reich- 
islicher zugeströmt ist als von der linken. Vielleicht hat der Tote, der 
jetzt am Wege liegt, einst am Saum eiues Waldes gestanden; vom 
Walde, wo er mit vielen seiner Brüder die Nahrung zu teilen hatte, 
konnte ihm nicht so viel gespendet werden als von der Waldwiese. 
Doch ich sehe an seinem Stamm, daß nur die erste Hälfte seines 
20 Lebens diese Erscheinung bietet, die zweite Hälfte hat die Jahresringe 
ringsum gleichmäßig stark angesetzt. Wahrscheinlich sind seine Nach, 
barn früher geiällt als er; ihn als einen Spätling hat man noch eine 
Zeitlang stehen lassen. Hermann ©übe. 
20. Die Lerche. 
1. 
@ie Schatten der Nacht bedeckten das Feld; Ruhe und Schweigen 
lag auf der weiten Flur; kaum ein Blättchen des sprossenden 
Getreides schwankte im Zuge der kühlen Luft. Da dämmert es 
allmählich im Osten; die Sonne sendet ihre ersten Strahlen zu den 
ü Wolken, die wie weiße Lämmchen am tiefblauen Himmel den Morgen¬ 
stern als ihren Hirten umlagern. 
Zwischen den dunkeln Schollen des Ackers regt es sich. Ein Lerchen- 
pürchen hielt dort seine Nachtruhe. Erst gestern kamen sie an; noch 
ist's Februar. Im Süden Deutschlands verlebten sie die unfreundliche 
io Winterszeit. Noch ist kein Säuger des Waldes zurück; nur die Lerche 
ist da. Dort sitzt sie auf der Scholle wie auf ihrem Wartturin, 
schüttelt die Federn und putzt die staubigen Schwingen.
	        
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